Urheberrechte
Verwaiste Werke

Werke, deren Rechteinhaber nicht erreichbar sind, stellen beim Aufbau digitaler Bibliotheken große Hürden dar. Goethe.de sprach mit Dr. Arne Upmeier, Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Ilmenau und ehemaliger Vorsitzender der Rechtskommission im Deutschen Bibliotheksverband.
Herr Upmeier, was sind verwaiste Werke?
In unseren Bibliotheken und Archiven stehen tausende Werke, die zwar urheberrechtlich geschützt sind, bei denen wir den oder die Rechteinhaber aber nicht mehr erreichen können. Sie sind „verwaist“ in dem Sinne, dass es niemanden gibt, der die Rechte aktiv wahrnimmt. Das ist ein gewaltiges Problem.
Wertvolle Schätze drohen, in Vergessenheit zu geraten
Welches Ausmaß hat dieses Problem?
Wir schätzen, dass wir bei mehr als der Hälfte der im vergangenen Jahrhundert erschienenen Bücher nicht wissen, wie wir die Urheber kontaktieren können. Als Beispiel könnten Sie an eine Dissertationsschrift aus den Siebzigerjahren denken. Unter welcher Adresse ist der auf dem Titelblatt angegebene Verfasser heute zu erreichen? Lebt er überhaupt noch oder sind die Rechte eventuell schon auf irgendwelche Erben übergegangen?
Hier wäre eigentlich eine aufwändige Detektivarbeit nötig; in der Praxis ist dies aber leider nicht zu leisten – schon gar nicht, wenn man es mit großen Mengen an Büchern zu tun hat.
Warum stellen verwaiste Werke beim Aufbau etwa der europäischen digitalen Bibliothek Europeana ein Problem dar?
Wir dürfen ein Werk in der Regel nur digitalisieren und einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, wenn wir die Erlaubnis des jeweiligen Rechteinhabers dazu haben. Obwohl wir sogar davon ausgehen können, dass sich die meisten Autoren eher freuen würden, wenn ihre beinahe vergessenen Werke wieder neu präsentiert werden, reicht dies nicht als rechtsverbindliche Digitalisierungserlaubnis.
Wir beobachten schon länger, dass Texte, die nicht im Internet verfügbar sind, immer weniger wahrgenommen werden. Es ist sehr schade, dass wertvolle Schätze in Vergessenheit zu geraten drohen, nur weil der Rechteinhaber nicht mehr gefragt werden kann!
Pragmatischer Interessenausgleich gefordert
Wie könnte Rechtssicherheit geschaffen werden?
Ein gutes Gesetz muss den derzeit gestörten Ausgleich zwischen den angenommenen Interessen der Urheber und denen der Allgemeinheit wiederherstellen. Die Bürger haben ein großes Interesse daran, die im vergangenen Jahrhundert geschaffenen kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen öffentlich frei zugänglich zu erhalten.
Eigentlich sollten die Urheber von Werken diejenigen sein, die in erster Linie über die Verwendung „ihres“ Werkes entscheiden. Wenn die Urheber aber gar nicht mehr entscheiden können, liegt tatsächlich eine Störung vor und der Gesetzgeber muss einen pragmatischen Ausgleich finden.
Auf welcher Ebene müsste das geschehen?
Es muss auf mehreren Ebenen Regelungen geben. Auf europäischer Ebene geht es vor allen Dingen darum, dass die nationalen Regelungen auch über die europäischen Binnengrenzen hinaus anerkannt werden.
Allerdings ist das Urheberrecht überwiegend europäisch zentriert. Der nationale Gesetzgeber braucht also erst eine Art europäische Genehmigung, um auf diesem Gebiet überhaupt eigene Regeln erlassen zu können. Wie genau in Deutschland mit verwaisten Werken umgegangen wird, muss aber der nationale Gesetzgeber entscheiden.
Kritik am EU-Richtlinienvorschlag
Die Europäische Union hat im Mai 2011 einen Richtlinienvorschlag zu diesem Thema gemacht. Ist das ein Fortschritt?
Ja und nein. Es ist tatsächlich ein großer Fortschritt, dass sich die EU dieses wichtigen Themas annimmt. Leider steckt aber auch hier der Teufel im Detail und einige der vorgelegten Vorschläge wären im Ergebnis eher kontraproduktiv.
Was wird darin genau geregelt?
Kernstück des europäischen Vorschlags ist die „sorgfältige Suche“ nach dem Urheber, die eine Bibliothek oder ein Archiv durchführen muss, ehe ein Werk digitalisiert werden kann. Für die Bibliotheken ist es dabei wichtig, dass diese Suche auch automatisiert durchgeführt werden kann, also durch Abfrage bestimmter Datenbanken. Wenn diese Suche dann erfolglos war, sollte digitalisiert werden dürfen.
Die Beratungen über den EU-Richtlinienentwurf werden vom Deutschen Bibliotheksverband kritisiert. In einem offenen Brief an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments heißt es, dass das Ziel der Richtlinie, eine praktische Lösung für ein praktisches Problem zu sein, aus dem Blick zu geraten drohe.
Inwiefern?
Das Hauptproblem sind die sehr hohen Anforderungen, die derzeit an die „sorgfältige Suche“ gestellt werden. Die im Entwurf eingebauten Hürden sind so hoch, dass eine Massendigitalisierung nur noch sehr schwer möglich wäre. Es wäre aber viel zu teuer und auch ganz unverhältnismäßig, wenn man vor jeder Digitalisierung umfangreiche Recherchen betreiben müsste.
Kompromissvorschlag für Deutschland
Wie geht es mit diesem Vorschlag weiter?
Wir gehen davon aus, dass wir über kurz oder lang die neue EU-Richtlinie bekommen. Dann ist sehr wichtig, dass der nationale Gesetzgeber möglichst schnell nachzieht und die Richtlinie auch in nationales Gesetz umsetzt. Die Bibliotheken stehen nämlich schon länger in den Startlöchern.
Gibt es bereits nationale Bemühungen um eine gesetzliche Regelung?
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Verwertungsgesellschaft Wort, die Deutsche Nationalbibliothek und der Deutsche Bibliotheksverband haben sich auf einen gemeinsamen Vorschlag zum Umgang mit „verwaisten“ Werken geeinigt und diesen dem Bundesjustizministerium vorgetragen. So lange aber noch nicht ganz klar ist, wie die europäische Regelung genau aussehen wird, bleibt auch unklar, ob der vorgeschlagene Kompromiss in Deutschland umgesetzt werden kann.
Die Bundesregierung hat im April 2013 einen Gesetzentwurf zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke vorgelegt. Das Interview wurde vor diesem Zeitpunkt geführt.