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Bov Bjerg
Wiederauferstehung

Ein Roman erscheint im Jahr 2008, verkauft sich kaum, dann brennt auch noch das Lager mit den Restbeständen ab. Das war's, würde man denken. Doch der Kanon Verlag bringt Bov Bjergs Debütroman neu heraus.

Von Holger Moos X!

Bjerg: Deadline © Kanon Bov Bjerg wurde 2015 mit seinem Bestseller Auerhaus bekannt, der Nachfolger Serpentinen stand 2020 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Vor diesen beiden Werken hatte Bjerg seinen Debütroman geschrieben, der 2008 erschienen war, aber floppte. Nicole Schmidt prophezeite damals auf literaturkritik.de, dass der bis dahin nur auf Lesebühnen bekannte Autor sich mit diesem Erstling „unwiderruflich in die junge deutsche Literaturszene ein[schreibt]. Nun ist auch er einer von denen, an denen kein interessierter Leser mehr vorbeikommt, und das zu Recht.“

Deadline ist wiederauferstanden, dank des 2020 gegründeten Kanon Verlags. Es ist ein sperriges Werk, das, wie Verlagsleiter Gunnar Cynybulk im lesenswerten Nachwort schreibt, 2008 nur schwer einen Verlag fand, „es entsprach nicht der gehobenen Unterhaltung, die alle suchten“. Schließlich erkannte eine Lektorin des Mitteldeutschen Verlags den literarischen Wert des Romans, der im Gegensatz zum Gros der Gegenwartsliteratur nicht so tat, „als habe die Moderne nie stattgefunden“.

Man findet anfangs tatsächlich etwas schwer in Deadline hinein. Es ist ein experimenteller Roman, Bov Bjerg hat sich diesbezüglich „ein bisschen ausgetobt“, wie er in einem Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur erzählt. Sprache wird hinterfragt und seziert. Der parataktische Stil korrespondiert mit Leben, Denken und Obsessionen der Hauptfigur Paula, die unter einer beruflichen Deformation leidet, unter einem „Merkzwang“, einer „Beobachtungs- Benennungs-| Katalogisierungswut“. Sie ist Übersetzerin von Gebrauchsanleitungen, beschreibt ihre Umgebung bis in technische Details sehr genau und achtet auf jedes Wort. Oft kann sie sich nicht für das passende Wort entscheiden. Das bildet Bjerg auch im Text ab. Die Alternativen sind mit senkrechten Strichen getrennt: „Die Polystyrolschachtel knarrte|raspelte|quietschte, als ich sie aus den Gittern zog.“ Man kann sich denken, dass ihre Auftraggeber von derartigen Übersetzungen genervt sind.

Fette Sau

Paula ist eine stark übergewichtige Enddreißigerin, die in Boston lebt und Donuts liebt. Ihre Selbsteinschätzung liest sich so: „Die Oberschenkelinnenseiten rieben|scheuerten bei jedem einzelnen Schritt aneinander und ich schwitzte wie ein Schwein, du fette Sau.“ Zu Beginn des Romans macht sie sich auf den Weg zum Flughafen, um in ihre schwäbische Heimat zurückzukehren. Gemeinsam mit Schwester und Schwager muss sie das Grab ihres Vaters auflösen.

Paulas Leben ist geprägt von Deadlines, die sie fast immer einhält. Doch die titelgebende Deadline ist natürlich ein Hinweis, dass es nicht nur um Termin-, sondern auch um Lebensfristen geht. Die Linie zwischen Leben und Tod hat Paula geprägt, genauer: der frühe Suizid ihres Vaters. Damals, als sie „ungefähr, erst, etwa, knapp fünf Jahre alt“ war, kam sie zu spät. Selbstvorwürfe nagen an ihr, denn es gab bereits mehrere Suizidversuche: „Er hatte es immer so eingerichtet, dass man ihn rechtzeitig entdeckte. Das musste einmal schiefgehen. Ich hatte beschlossen, dass es dieses Mal schiefgehen würde.“ Seither ist Paula zwanghaft pünktlich: „Überpünktlich. Heute, im Beruf, war das von Vorteil.“

In der alten Heimat wird Paula von ihrer traumatischen Vergangenheit eingeholt. Die zahlreichen Rückblenden werden durch das Wort „Rekonstruktion“ eingeleitet und von „Slash Rekonstruktion“ beendet. Sie befindet sich in einem Leben in Dauerschleife: „Diese dauernde Wiederholung. Diese dauernde Erinnerung nach vorn (Kierkegaard).“

Ihr Vater war ein zu Depressionen neigender Steinmetz, der sein Leben lang mit Grabsteinen sein Geld verdient hatte und die heimische Terrasse mit ausrangierten Grabsteinen gepflastert hat: „Der Vater hatte beim Verlegen der Steine immer darauf geachtet, dass die Vorderseiten nach oben kamen. Boden: zwei Ziffernreihen, ein Kreuz. 1861 plus 1937, 3798. Ich kannte die Rechnung im Schlaf.“ Die Morbidität ist hier im wörtlichen Sinne der Grund, auf dem wir alle gehen und stehen.

Der Geruch von Grabsteinen

Beinahe beiläufig erzählt wird eine skurrile Sexszene zwischen Paula und ihrem Schwager im Kinderbett. Eventuellen Nachahmer*innen sei verraten: Kinderbetten sind dafür nicht geeignet!

Es gibt auch einen Horror- und Splattermoment. Eines Nachts holt Paula gemeinsam mit Wagner III, dem Enkel des Totengräbers aus ihrer Kindheit – scheinbar werden Berufe in der schwäbischen Provinz von Generation zu Generation weitergegeben – die Überreste ihres Vaters aus dem aufgelassenen Grab. Das ist makaber und nichts für schwache Nerven. Denn wer hat sich zuvor schon mal vor Augen geführt, was eine Wachsleiche ist? Immerhin lernt man, dass Wachsleichen weniger unangenehm riechen als Grabsteine, denen übler Gestank entweichen kann.

Paula arbeitet sich schließlich körperlich am Grabstein ihres Vaters ab, tilgt seinen Namen und meißelt ihren eigenen in den Stein. „Schreiben ist Überschreiben“, heißt es im Nachwort. Am Ende fliegt Paula nach Boston zurück und trägt den Gedanken, die Befürchtung, die Hoffnung in sich, dass sie schwanger sein könnte. Auch das macht Bjergs ungewöhnlicher und sprachlich beeindruckender Debütroman deutlich: Leben ist Überleben.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Bov Bjerg: Deadline. Roman
Berlin: Kanon, 2021. 176 S.
ISBN: 978-3-98568-002-3
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe (auch als Hörbuch)

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