Rocko Schamoni
Freaks
St. Pauli ist ein Mythos. Rocko Schamoni hat einen Roman über den Künstler Heino Jaeger geschrieben, dessen Lebensgeschichte in der Halbwelt dieses Hamburger Kiezes spielt.
Von Holger Moos X!
Rocko Schamoni hat 2019 mit Große Freiheit den ersten Teil einer geplanten Trilogie von biografischen Romanen über abenteuerliche, randständige Existenzen aus dem Rotlicht-Milieu St. Paulis veröffentlicht. Damals ging es um den exzentrischen Bordellboss Wolfgang „Wolli“ Köhler. In Rocko Schamonis neuem Roman
Der Jaeger und sein Meister erzählt er Geschichten aus dem Leben des heute fast vergessenen Zeichners und Satirikers Heino Jaeger (1938-1997).
Schamoni beginnt das Buch mit einem langen und bewegenden Prolog, einem Rückblick auf seinen krebskranken, sterbenden Vater. Wie sein Vater hatte auch Schamoni depressive Phasen. In einer Zwiesprache mit dem Toten fragt er, wie dieser damals seine Depression überwunden habe – und kann sich selbst natürlich nur zaghaft fragende Antworten geben: „Ist es einfach nur das Altern, das einen sich selbst finden lässt, weil man jeden Tag in den Spiegel schaut und irgendwann glauben kann, dass es diese merkwürdige Person, die man dort erblickt, tatsächlich gibt?“
Elterliche Freunde führten Schamoni in die Erwachsenenwelt ein. Besonders faszinierten ihn die „Freaks! Außergewöhnliche, die gut reden konnten, fantastische Angeber, Gockel, Posierer, Hervortuer, Hasardeure“. Diese Freaks wurden zu Schamonis Ersatzvätern, da sein eigener Vater eher zurückhaltend und distanziert war. Auf den Freak Heino Jaeger wird Schamoni erst 1991 aufmerksam. Er bekommt ein Maxi-Single in die Finger und ist sofort von dem merkwürdigen pointenlosen Humor fasziniert: „Eigentlich konnte man kaum unterscheiden, ob das, was Jaeger da präsentierte, noch Humor oder nur noch Abbild einer ins Groteske übersteigerten Realität war“. Man höre etwa den Sketch Passkontrolle.
Weltvertrauen in Schieflage
Jaeger ist für Schamoni eine echte Entdeckung, ein „Meister“. Er lernt auch dessen Zeichnungen und Bilder kennen und kauft ein paar Werke. Etliche Jahre später trifft er auf den bereits erwähnten Wolli Köhler, der als abgetakelte ehemalige Kiezgröße in einer Hamburger Sozialwohnung haust. Schamoni besucht ihn immer wieder und lässt sich Köhlers Lebensgeschichte erzählen, in dessen illustrem Salon in den 1960er- und 1970er-Jahren auch Heino Jaeger verkehrte. Joska Pintschovius, Jaegers bester Freund, berichtet Schamoni ebenfalls von Jaegers Aufstieg und Fall. Die Haupterzählung des Romans wird etliche Male unterbrochen durch die Schilderungen Pintschovius'.Gemeinsam mit dem Historiker Pintschovius arbeitete Jaeger im Helms-Museum, dem Hamburger Landesmuseum für Archäologie, als „Scherbenmaler“. Das Zeichnen ist Jaegers große Leidenschaft. Immer und überall greift er zu Stift und Skizzenbuch. In Gruppen sitzt er meistens still dabei. Doch er hört aufmerksam zu und kann sich genauestens merken, was und wie die Leute reden. Und manchmal bricht sein zweites Talent aus ihm heraus: Er imitiert das Gehörte, gibt es – oft auch dialogisch – wieder.
Pintschovius will dieses Talent seines Freundes fördern, lässt seine Kontakte spielen und verhilft ihm zu Probeaufnahmen beim WDR. So kommt Jaeger mit seinen Stegreifgeschichten ins Radio. Mit der Radioshow Fragen Sie Dr. Jaeger wird er bekannt.
Doch für den anhaltenden Erfolg ist Jaeger nicht gemacht. Er bleibt unberechenbar. Und seine Unzuverlässigkeit wird ausgerechnet von einem alkoholischen Getränks verstärkt, das man sich nicht hätte besser ausdenken können: dem Kräuterlikör Jägermeister. Alkohol und andere Drogen geben Jaeger den Rest. Nach einem LSD-Trip hatte sich etwas „in seinem Wesen verändert, sein Weltvertrauen war in Schieflage geraten“.
Amüsante Abwege
In dem episodisch geschriebenen Roman begibt sich Schamoni auch auf amüsante Abwege. In manchen Kapiteln kommt Heino Jaeger nur am Rande vor und es werden Anekdoten aus seinem Umfeld erzählt, wie etwa die des Skandalboxers Norbert Grupe, der 1969 nach einer katastrophale Niederlage bei einem legendären Fernseh-Interview mit dem ihm verhassten Moderator Rainer Günzler im Aktuellen Sportstudio minutenlang schwieg.Schamoni hat eine so unterhaltsame wie traurige Hommage an den hochbegabten, aber lebensuntüchtigen Heino Jaeger geschrieben, der eben nur im Zeichnen Halt gefunden hat: „Die Sicherheit, die ihm sonst im Leben fehlte, fand sich hier in einem einzigen entschlossenen Strahl aus Blei“.
Der Roman endet mit einem kurzen, aber ebenso ergreifenden Epilog, einem anderen Tod, dem von Schamonis ebenfalls an Krebs gestorbener Mutter. Den traurigsten Teil von Jaegers Biografie hat Schamoni nicht erzählt – der Satiriker hat mehr als zehn seiner letzten Jahre in psychiatrischen Kliniken zugebracht. Aber vielleicht wird Schamoni eine Fortsetzung schreiben, wie am Ende des Buches angedeutet. Das wäre mehr als wünschenswert!
München: hanserblau, 2021. 224 S.
ISBN: 978-3-446-26603-2
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