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Wolf Haas
Brenner bei den Mistlern

Wolf Haas ist es schon wieder passiert. Nach acht Jahren hat er einen neuen Roman um die Figur des Simon Brenner veröffentlicht. Zwar will dieser nicht mehr als Privatdetektiv herumschnüffeln, aber was soll er machen, wenn direkt vor seiner Nase Leichenteile auftauchen?

Von Holger Moos X!

Haas: Müll © Hoffmann und Campe Ein Wertstoffhof verströmt wenig Glamour. Menschen, die da in Lohn und Brot stehen, genießen aber dennoch einen gewissen Respekt, zumindest wenn man an diesem Ort seinen Müll regelkonform entsorgen möchte. In Wien heißen Dinge und Funktionsträger*innen gerne anders: Hier arbeiten auf einem Mistplatz orange gewandete Mistler. Der ehemalige Kripo-Inspektor und Privatdetektiv Simon Brenner hat in Wien genau dort einen Unterschlupf gefunden.

Brenner hoffte, als Mistler seine Ruhe haben zu können. Doch auch wenn er, laut Auskunft des Autors, noch nie eine Zukunft hatte, holt ihn seine Vergangenheit immer wieder ein. In Wolf Haas' neuem Roman Müll finden die Mistler erst nur ein menschliches Knie, bald aber auch fast alle anderen Körperteile einer Leiche. Es dauert natürlich nicht lange, bis Brenner in den Fall verwickelt wird, quasi Ehrensache für den Brenner – um den Haas'schen Duktus zu bemühen.

Biomüll oder Kompost?

Auch im mittlerweile neunten Brenner-Roman gibt es eine Erzählerstimme, die den Lesenden viel Interessantes über das soziale Milieu vermittelt. Zunächst lernt man, dass ein Wertstoffhof schnell zur Philosophieschule werden kann. Denn beim Müll geht es um das klare Trennen, die genaue Einteilung in Kategorien, „sprich Wannen“. Daher: „Müll beste Schule für das Denken.“ Ein menschliches Knie ist da eine Herausforderung. Aufgetaucht beim Sperrmüll, Wanne 4. Dort gehört es sicher nicht hin. „Menschliches Knie wäre natürlich, wenn schon, Biomüll. Wanne 19. Oder zur Not, zur äußersten Not von mir aus Kompost. Wanne 12.“

Simon Brenner ist seit jeher eine verkrachte Existenz. Je älter er wird, desto weniger schert er sich um Konventionen. Wozu eine eigene Wohnung unterhalten, wenn es so viele Menschen gibt, deren Wohnungen oft und lange unbewohnt sind? Brenner ist ein so genannter Bettgeher. Dieser ist kein Vandale, sondern „elegant. Weil er nutzt nur die Leere.“ Ein Bettgeher „verwandelt das Möbellager in eine belebte Wohnung…, erweckt die tote Wohnung regelrecht zum Leben“. Modern und beliebt ist diese Wohnform obendrein, „weil sehr preisgünstig und flexibel“. Einzige Voraussetzung: „Du musst nur den Mut haben, in die Leere hineinzugehen.“ Seine polizeiliche Vorerfahrung ist dabei nützlich, um geeignete Wohnungen auszumachen, ein leichter Fluchtweg ist das Wichtigste.

Doch eines Nachts kann Brenner nicht schlafen – einerseits geht ihm der vermutete Mordfall nicht aus dem Kopf, andererseits hat er Angst vor einer ebenfalls vermuteten Blutvergiftung. Also nimmt er Schlaftabletten, was dazu führt, dass er die heimkehrende Wohnungseigentümerin nicht bemerkt. Die schlägt ihn mit ihrem Schminkkoffer bewusstlos und kettet ihn mit Handschellen ans Bett. Sie denkt gar nicht daran, die Polizei zu rufen, was diverse Angstfantasien in Brenner auslöst. Doch am Ende des Romans wird es diese Frau Rossi sein, die Brenner zu Hilfe kommt.

Beziehungstat oder Organmafia?

Der zerstückelten Leiche fehlt das Herz. Da vermutet die Tochter des Toten, dass die Organmafia ihre Finger im Spiel hat. Doch Brenner weiß es natürlich besser, Mörderin ist die verschwundene Ehefrau: „Was soll sonst dahinter stecken? 95 Prozent aller Morde Beziehungstat“, erklärt er seinem ermittelnden Ex-Kollegen namens Kopf, den Brenner vor vielen Jahren ausgebildet hat. Nach seinem traumatischen Erlebnis als Bettgeher wohnt Brenner nun bei Kopf, doch sein Draht zur Vergangenheit wurde nicht besser: „Jetzt haben wir uns so viele Jahre nicht gesehen und können uns ohne die geringste Anlaufzeit immer noch genauso schlecht unterhalten wie früher.“

Die Geschichte nimmt anschließend eine Wendung, und das Thema Organspende spielt doch noch eine ungeahnte Rolle. Ein Geschäft ist es vor allem dort, wo Spenderorgane rar sind, also konkret: in Deutschland. Denn während man in Österreich einer Organentnahme aktiv widerspricht, muss man in Deutschland aktiv zustimmen. Aufgrund der menschlichen Trägheit ist die Zahl der potenziellen Organspender*innen in Österreich höher als in Deutschland. Das führt auch unter den Mistlern zu juristisch durchaus kniffligen Fragen: „Was ist eigentlich, wenn ein Österreicher in Deutschland verunglückt? Gilt dann das österreichische Recht oder das deutsche für die Organe?“

Wolf Haas' Brenner-Romane sind immer ein Lesevergnügen, so auch Müll. Man lässt sich gerne treiben in diesem speziellen Brenner-Sound, der die gesprochene in die geschriebene Sprache integriert und dabei lakonische bis sarkastische Lebensweisheiten vermittelt. Eine alltagstaugliche Beschreibung des Konzepts der Erbsünde klingt etwa so: „Da fängt es an mit der Schuld. Mit den kleinsten Sachen fängt es an. Und aufhören tut es nie.“

Das Ende ist filmreif, ein Showdown mit Altglaslaster am Chiemsee. Es würde mich nicht wundern, nein, vielmehr sogar freuen, die Geschichte in nicht allzu ferner Zukunft nochmals auf der Leinwand erzählt zu bekommen. Verdient hat sie es allemal!
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Wolf Haas: Müll
Hamburg: Hoffmann und Campe, 2022. 288 S.
ISBN: 978-3-455-01430-3
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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