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Gert Loschütz
Zeit, die nicht vergeht

Wenn ein einziger Tag ein ganzes Leben bestimmt. Gert Loschütz erzählt die Geschichte eines Geflüchteten, dessen Flucht heute historisch anmutet.

Von Holger Moos X!

Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist © Schöffling & Co. Es sind die späten 1950er-Jahre in einer ostdeutschen Kleinstadt. Eine Mutter macht sich eines frühen Morgens mit ihrem Sohn auf den Weg. Sie will aus der DDR fliehen. Das elfjährige Kind wird aus dem Schlaf gerissen und weiß von nichts. Es ist ein Satz der Mutter, der Karsten Leiser durch sein weiteres Leben begleiten wird: „Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst.“

Die Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist ist ein wiederaufgelegter Roman des 1946 in Genthin geborenen und – wie seine Romanfigur – elfjährig zusammen mit der Familie ins hessische Dillenburg übergesiedelten Gert Loschütz. Im Roman heißt der Ort Wildenburg. Die autobiografischen Züge sind, wie oft bei diesem Autor, unübersehbar.

30 Jahre später erzählt die Hauptfigur in Gert Loschütz' Roman sehr sprunghaft und assoziativ von seinem Leben. Der Tag der Flucht hat sein ganzes Dasein bestimmt. Er trägt von da an ein tiefes Misstrauen in sich.

Ein Nebendirmensch

Das fiktive Plothow, in dem bereits die Handlung von Loschütz vorletztem Roman Ein schönes Paar (2018) angesiedelt war, ist der Ort, den Carsten Leiser als Kind verlassen musste. Die Geschichte ist eine Lebensbeichte, die er seiner Ex-Freundin Vera offenbart. Auch sie kann Leiser nicht vertrauen – und seine Vergangenheitsfixiertheit, „dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen“, nicht ertragen. Sie hinterlässt ihm ein Notizbuch, in dem sie ihn so beschreibt: „Neigte dazu, sich abzukapseln, fremd zu tun, der Nebendirmensch.“ Auf ihre Frage, was denn so besonders sei an seiner Geschichte in einer „Welt voller Flucht“, vermag er nur zu antworten: „Dass es meine ist.“

Es nutzt ihm nichts, dass er ein erfolgreicher Reisejournalist geworden ist. Wohin es ihn auch verschlägt –  Rom, Sardinien, Irland – überall entdeckt er Orte, die ihn an seine verlorene Heimat erinnern. Er ist lebenslang ein Verratener und Vertriebener, seine Erinnerungen haben sich in ihm „festgefressen… wie eine Krankheit“. Loschütz findet zahlreiche Metaphern für die inneren Zustände, so etwa der verkratzte Koffer, der für die Flucht gepackt wurde. Der Erzähler kann ihn nicht loswerden. Einmal geht er auf eine Mole und wirft ihn in die Fluten. Doch sogar das Meer will den Koffer nicht behalten und spült ihn wieder an Land.

unzuverlässiger Erzähler

Unversöhnlich steht der Erzähler seinem Leben gegenüber. Mit einer Mischung aus Neid und Verachtung schaut er auf „die ewigen Einheimischen, denen keine Katastrophe etwas anhaben konnte“. Das sind für ihn „Leute, denen alles zur Anekdote gerann“. Gemeint sind damit natürlich primär die Westdeutschen mit ihren humanistischen Gymnasien, an denen wiederum vor allem eines vermittelt werde: „das herablassende Reden“.

Als Leser*in muss man erst hineinfinden in diesen an Stimmungsbildern reichen Roman, der vieles nur andeutet. Loschütz greift auch in die Trickkiste des unzuverlässigen Erzählens, manches bleibt unklar, rätselhaft. So wenig der Erzähler anderen Menschen traut, so wenig ist ihm selbst zu trauen.

Bereits 1988 hatte Loschütz die Geschichte unter dem Titel Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist als Hörspiel veröffentlicht. 1990 war der Roman dann zum ersten Mal erschienen, er trug den Titel Flucht, den der Autor heute als unpassend empfindet. In einer Nachbemerkung zur Neuauflage erklärt Loschütz: „Damals war klar, dass damit nur die Flucht von Ost nach West gemeint sein konnte… Das hat sich geändert. Heute, da so viele Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Kriegen, vor religiösem Fanatismus, Hungersnöten und Klimakatstrophen sind, ist der Titel falsch. Er suggeriert einen Zusammenhang, in dem der Roman nicht steht.“ In seinem Kopf habe die Geschichte schon immer den aktuellen Titel gehabt.

Auch wenn Loschütz sein Werk von zeitgenössischen Fluchtgeschichten abrückt, erinnert es uns dennoch daran, dass heute an vielen Orten auf der Welt Menschen Tage erleben, die für sie niemals vergehen werden, von denen sie ein Leben lang erzählen werden müssen.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist. Roman
Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2022. 208 S.
ISBN: 978-3-89561-158-2
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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