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Cihan Acar
Kein Käthchen in Heilbronx

Ein türkischstämmiger junger Mann aus Heilbronn scheitert mit seiner Fußballkarriere in der Türkei, kehrt zurück, weiß aber nicht, wie es weitergehen soll. Und in der Stadt brodelt es.

Von Holger Moos X!

Acar: Hawaii © Hanser Berlin Spielort: Schon alleine die Tatsache, dass Cihan Acars Debütroman Hawaii nicht in Berlin, Hamburg oder wenigstens Frankfurt spielt, verdient Respekt und bringt Aufmerksamkeit. Denn Heilbronn ist – abgesehen von Kleists obligatorischem Käthchen von Heilbronn – eher in der Peripherie der literarischen Deutschlandkarte verortet. Und man lernt, dass auch diese Stadt ein Problemviertel hat, nämlich das titelgebende Hawaii, in dem ein guter Teil der türkischen Diaspora Heilbronns lebt. Die Geschichte findet innerhalb weniger brütend heißer Sommertage statt – ein formaler Gruß an Salingers ebenfalls nur an wenigen Tagen spielenden Roman Der Fänger im Roggen, eines der Bücher, die Acar nach eigener Auskunft inspirierten.
 
Spieler des Buchs: Protagonist von Acars Roman ist der 21jährige Kemal Arslan. Kemal war ein talentierter Fußballer, der es als Profi in die erste türkische Liga schaffte, bei einem Autounfall aber nicht nur seinen Jaguar, sondern auch den linken Fuß ruinierte. Nun ist er in seine Geburtsstadt Heilbronn zurückgekehrt – ohne eine Idee, wie sein Leben weitergehen soll.
 
Die erste Hälfte: In der aufgestauten Hitze braut sich etwas zusammen. Gleich zu Beginn bekommt Kemal in einem „Bierhölle“ genannten Etablissement mitgeteilt, dass er, der „Türk“, dort nichts verloren habe. In der Stadt formiert sich die rechtsextreme HWA-Bewegung („Heilbronn, wach auf“). Mit den „Kankas“ („Kumpel“) gibt es eine migrantische Gegenbewegung. Es ist also ordentlich Druck im Kessel. Kemal gehört nirgendwo so richtig dazu, er irrt durch die Straßen sowie durch seine ruhmreiche Fußballervergangenheit und die trost- und perspektivlose Gegenwart.
 
Die zweite Hälfte: Der Druck entlädt sich schließlich in regelrechten Straßenschlachten, Heilbronn brennt. Kemal beobachtet zunächst von seinem Balkon aus, wie Horden schwarz gekleideter Männer mit Sonnenbrillen in sein Viertel einmarschieren. Sie skandieren  „Heil-bronn-wach-auf!“ und „Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!“ Da er einen der Kankas zufällig auf der Straße trifft, schließt sich Kemal ihnen an, doch als die Kankas den Dönerladen eines Verräters auseinandernehmen, wird es Kemal zu viel und er rennt davon – allerdings über ein paar Umwege in die Arme der Neonazis, die vor dem Eingang zu seinem Viertel eine Straßenblockade errichtet haben.
 
Nachspielzeit: Gescheitert in seiner Fußballkarriere und in der Liebe, hat Kemal am Ende wenigstens diese Erkenntnis: „Ich wusste ganz genau, wo ich hinwollte. An einen Ort, an dem ich der sein kann, der ich bin. Nicht Kemal, der Fußballer, nicht Kemal, der Arbeitslose, der Herumtreiber, der Versager, der Verräter, der Verkäufer, der Typ zwischendrin. Sondern einfach nur ich. So einen Ort muss ich finden“.
 
Zweikampf des Buchs: Die rechtsextreme HWA-Bewegung und die Kankas führen eine Art Stellvertreterkrieg. Man trommelt Anhänger aus ganz Deutschland zusammen, Heilbronn wird zum Siedepunkt eines überall vorhandenen rassistisch motivierten Gewaltpotenzials. Die militante, von einem Anführer namens Abdullah angeführte Kanka-Gruppe organisiert die Gegenwehr ebenfalls überregional: „Unsere Brüder aus anderen Städten stehen bereit ... Wir haben viel zu lang gewartet! … Wir schlagen zurück! Wir werden die Stadt aus ihren dreckigen Händen reißen!“
 
Mehrere Verletzungen: Neben seinem linken Fuß ging Kemals Profikarriere in der Türkei auch auf Kosten seiner Freundin Sina. Zurück in Heilbronn will er Sina, die aus einer reichen Familie mit luxuriöser Villa über der Stadt kommt, zurückerobern. Doch daraus wird nichts. Diese Liebesgeschichte fällt im Vergleich zur restlichen Handlung etwas ab, die Figur der Sina bleibt eher blass und dient mit ihrem Umfeld hauptsächlich dazu, eine reiche, weiße Gegenwelt zu repräsentieren.
 
Szene des Buchs: Eine Liebes- oder doch wenigstens Freundschaftsszene zwischen Mensch und Maschine. Das notorisch enge Verhältnis zwischen erfolgreichen Fußballern und ihren Luxusautos bekommt hier eine zärtliche Note. Kemal hat seinen fahruntüchtigen Jaguar in einem Parkhaus untergestellt und führt Zwiegespräche mit seinem geschundenen Statussymbol, das um Reparatur fleht und nur von Kemal gefahren werden will. Am Ende konstatiert der Jaguar enttäuscht: „Mein Opa hatte einfach recht. Auf euch Menschen ist kein Verlass.“
 
Das Ergebnis: Ein Roman, der als Menetekel für die diesjährigen Randale in der baden-württembergischen, nun ja, Metropole Stuttgart oder die rassistischen Morde in Hanau herhalten darf und sicherlich auch durch die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018 geprägt ist. Bürgerkriegsähnliche Zustände in einer deutschen Provinzstadt waren bisher jedenfalls eher selten Thema in der aktuellen Literatur. Für Christoph Schröder von der SZ ist Acar eine „schlüssige Deutschland-Momentaufnahme gelungen“. Prämiert wurde Hawaii mit dem Literaturpreis der Doppelfeld Stiftung. „Rasante Dialoge, zartfühlende Personenzeichnung und ein feiner Sinn für den Sound zwischen Schwäbisch und Türk-Deutsch zeichnen das Debüt von Cihan Acar aus. Alltäglicher Rassismus und Chancenungleichheit sind die hochaktuellen Themen, die Acar ebenso beiläufig wie markant in Szene setzt“, heißt es in der Jurybegründung.
 

Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Cihan Acar: Hawaii
Berlin: Hanser Berlin, 2020. 256 S.
ISBN: 978-3-446-26586-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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