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Jürgen Hosemann
Der Mensch am Meer, ein Trottel

Der Lektor Jürgen Hosemann hat sein erstes Buch geschrieben. Es ist ein Protokoll über einen einzigen Tag. Von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten sitzt er am Meer und schreibt über das, was in dieser Zeit passiert – oder eben nicht passiert.

Von Holger Moos X!

Hosemann: Das Meer am 31. August © Berenberg Entschleunigung: Das war und ist ein beliebtes Schlagwort und gerne propagiertes Gegenmittel zu unseren ach so beschleunigten Zeiten. Im Moment, wo wir uns mit Reiseeinschränkungen arrangieren müssen, werden wir wieder verstärkt mit der existenziellen Ereignislosigkeit unseres Daseins konfrontiert, weil höchstens kleine Fluchten möglich sind.
 
In Das Meer am 31. August ist Hosemann gereist, sogar über Landesgrenzen hinweg, in den italienischen Badeort Grado. In seinem Urlaub hat er sich vorgenommen, 24 Stunden am Meer zu sitzen, einfach nur zu sitzen und zu beobachten.
 
Intellektuell hat sich Hosemann auf diesen Tag am Meer nicht vorbereitet. Zur Einstimmung diente nur ein Gedicht von Wolfgang Hilbig (Matière de la poésie), das der Mitherausgeber von Hilbigs Werken auch zitiert. Das Nachdenken über das Gedicht führt jedoch nicht zu mehr Klarheit, sondern der Sinn verhüllt sich immer mehr – „verhüllt von Helligkeit“. Und die Zeit erscheint nicht „als etwas, das vergeht, sondern als etwas, das immer da ist“. Genauso ergeht es Hosemann beim Blick auf das Meer. Je länger er schaut, desto weniger sieht er.

24-stündige Selbstbeschränkung

Natürlich kann so ein Programm der Entschleunigung Gefühle der Unzufriedenheit entstehen lassen. Zurückgeworfen auf die eigene Beobachtungsgabe kann man schnell an deren Grenzen stoßen und frustriert werden. Da ist es gesund, wenn die Erwartungen erst gar nicht so hoch sind – oder man mit dem Schlimmsten rechnet. So zitiert Hosemann gleich zu Beginn Ernst Jandl mit dieser Gedichtzeile: „ich beginne den missglückten tag“. Dieser Satz verbindet die unausrottbare menschliche Hoffnung mit dem ebenso unausweichlichen menschlichen Scheitern.
 
Hosemann strebt in dieser 24-stündigen Selbstbeschränkung natürlich nach genauerer Wahrnehmung, tieferen Gedanken. Er findet aber oft nichts, wird abgelenkt, schaut auch mal hilfesuchend in den Himmel und glaubt in den Wolken Worte zu finden. Doch das Ergebnis ist ernüchternd: „Das einzige Wort, das die Wolken über der Küste von Triest tatsächlich gebildet haben, war TROTTEL gewesen, den Rest hatte ich mir vermutlich eingebildet.“

Wann wird das Licht kommen?

Hosemann ist sich darüber im Klaren, dass er vielleicht nur ein „Mann in der Krise der mittleren Jahre [ist], dem nichts mehr einfiel, als nichts zu tun“. Auch die Erinnerung bietet keinen Halt: „Wie soll ich mir mein Leben merken, wenn ich mir noch nicht mal einen Tag merken kann?“ Am Ende steht die täglich alles entscheidende Frage: Werden wir die Küste des Morgen erreichen?
 
„Der Charme des Buches ist auch seine Diskretion“, schreibt Stefan Fischer in der SZ. Dem muss man unbedingt zustimmen. Das Büchlein erzeugt beim Lesen, gerade aufgrund seiner Ehrlichkeit und der angenehm unprätentiösen, teilweise selbstironischen Art, ein Gefühl der inneren Gelassenheit. Denn es ist gewiss: Die Zeit lässt sich nicht festhalten, sie ist einfach da und interessiert sich nicht für uns. Wir hingegen vergehen, alles zieht an uns vorüber – und alles, was wir vielleicht tun sollten, ist zu versuchen, genau hinzusehen und diese Frage zu stellen: „Aber wann wird das Licht kommen, und wie?“
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Jürgen Hosemann: Das Meer am 31. August
Berlin: Berenberg, 2020. 112 S.
ISBN: 978-3-946334-82-8

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