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Anna Katharina Hahn
Erschöpfung auf schwäbisch

Nur auf und davon oder gleich aus und vorbei? Anna Katharina Hahn erzählt von den sich plagenden Frauen einer schwäbischen Familie und von ihren Fluchtversuchen. Einer führt nach New York, der andere in ein prekäres Viertel in Stuttgart.

Von Marit Borcherding X!

Hahn: Aus und davon © Suhrkamp Zwei Redewendungen mixt Anna Katharina Hahn für den Titel ihres neuen Romans Aus und davon. Diese Wendungen hängen durchaus zusammen, denn wenn etwas unwiederbringlich vorbei und gescheitert ist, liegt es nahe, den Schauplatz des eigenen Unglücks zu verlassen, Distanz zu gewinnen, woanders neu anzufangen. Und so lässt die Autorin die Mitglieder ihrer Roman-Familie teils verzweifelt, teils ausgebrannt und teils sogar zuversichtlich nach anderen als den eingefahrenen und Unzufriedenheit generierenden Wegen suchen – was sie zeitweise voneinander entfernt, aber doch nicht ganz, denn der Familie entkommt man, wie so oft bei Anna Katharina Hahn, nicht ohne Weiteres.

Hilferufe

Dass in der von der Autorin kreierten familiären Versuchsanordnung die Verhältnisse auf dem Kopf stehen, verdeutlicht gleich das erste Bild auf der ersten Seite: Da klebt ein Pfannkuchen an der Decke. Verursacher der fetttriefenden Provokation ist Bruno, der sich zu einem Akt der Rebellion gegen seine Großmutter Elisabeth hat hinreißen lassen. Diese betreut ihre Enkel*innen, weil Tochter Cornelia - geschieden, alleinerziehend, am Rande der Belastungsgrenze - eine Auszeit brauchte und sich nach New York abgesetzt hat. Elisabeth, sonst die Verkörperung einer patenten und starken Geschäftsfrau, ist derzeit auch in ihren Grundfesten erschüttert – hat doch ihr Mann Hinz, mit dem sie gemeinsam ein Reisebüro geführt hatte, sie nach zig Ehejahren verlassen. Als Schlaganfallpatient lernte er in der Reha Annemarie kennen, mit ihr will er fortan glücklich sein. Angesichts dieser Demütigung scheint die Betreuung der Enkel*innen Stella und Bruno eine gute Ablenkung, auch wenn sie im Stuttgarter Osten stattfindet, einem prekären Terrain, von dem die gutbürgerliche Elisabeth sich sonst eher naserümpfend abzugrenzen pflegt.
 
Die Kalorienbombe an der Zimmerdecke ist nur der Auftakt für einer Kette chaotischer Ereignisse, in deren Verlauf Bruno verschwindet und wiedergefunden wird, Elisabeth die Clique der pubertierenden Enkelin Stella kennenlernt und sich schließlich sogar mit einem älteren Hundebesitzer aus dem Viertel anfreundet. Am Ende kommt Cornelia aus den USA zurück und Hinz hinterlässt einige Schnaufer auf dem Anrufbeantworter.

Innerer Antrieb

Doch der Roman befasst sich nicht nur damit, was den Figuren gerade passiert, sondern auch mit der Entwicklung ihrer jeweiligen Persönlichkeit, dargestellt aus wechselnder Erzählperspektive. So zeigt sich Elisabeth, die Zupackende, die Verfechterin von Fertigessen und rauen Erziehungsmethoden gegenüber den Enkel*innen, im Inneren als von den missbilligenden Stimmen zweier pietistischer Diakonissen Geplagte. Kein Über-Ich, das für heitere Gelassenheit den Unbilden des Lebens gegenüber sorgt. Tochter Cornelia, die als Ich-Erzählerin auftritt, ist zwar einerseits lässiger und moderner, andererseits aber auch von einem zermürbenden Perfektionismus getrieben. Auf dem entfernten Kontinent will sie nicht nur Erholung finden, sondern begibt sich auch auf die Spuren ausgewanderter Verwandter, woraus Anna Katharina Hahn einen weiteren, mit Spannung und Grusel behafteten Erzählstrang komponiert.
 
An Bruno schließlich, dem zartbesaiteten, aber übergewichtigen Jungen führt die Autorin schonungslos vor, wie umstandslos und brutal Ausgrenzung funktioniert, wenn jemand nicht den bürgerlichen Normen von Selbstbeherrschung und Selbstoptimierung entspricht, und sei es nur ein unschuldiges, von familiären Traumata geplagtes Kind.

Von Puppen und Durchschnittsfamilien

Und dann ist da noch der Linsenmaier – eine mit ebendiesen Hülsenfrüchten gefüllte Stoffpuppe, die Anna Katharina Hahn eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählen lässt – wieder handelt es sich um einen Fluchtversuch: die Auswanderungsgeschichte von Elisabeths Mutter. Die endet nicht glorios als Tellerwäscher-Millionärin-Märchen in den USA, sondern mit der Rückkehr nach Stuttgart und einem von Pflege und Aufopferung gezeichneten Frauenleben. Die der Romantik entlehnte Puppenerzählung bringt einen märchenhaften und damit einen die Realität transzendierenden Ton in das Buch – „der Linsenmaier ist so ein bisschen die Gothic Novel innerhalb des Romans“, meint die Autorin selbst in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk zu ihrem Kunstgriff.
 
Näher in den Blick nehmen ließen sich auch noch die ungewöhnliche Rolle, die Tiere – Tauben, Hunde, Katzen etc. - in diesem Buch spielen, sowie die Funktion digitaler Medien für die innerfamiliäre Kommunikation oder die kulturelle Irritation mancher Protagonist*in, bewirkt durch Stellas aus Syrien stammenden Freund Hamid. An Vielschichtigkeit mangelt es dem Roman also gar nicht. Und dennoch, so kommt es in dem oben genannten Interview zur Sprache, werfen Kritiker*innen Anna Katharina Hahn hin und wieder vor, die von ihr präferierten Stuttgarter Mittelschichtsfamilien seien langweilig. Das kann sie – zu Recht – nicht verstehen: „Die ganze Bundesrepublik Deutschland ist ein bürgerliches Land. ... Das Bürgertum ist das Milieu, in dem wir uns fast alle bewegen ... wir alle sind deutsche Spießer. Und deswegen kann ich dieses Milieu nicht langweilig finden. ... Es ist ebenso Bürgertum wie Prekariat, das mich interessiert, das liegt oft eng beieinander.“ Angesichts dieses Fokus wird Anna Katharina Hahn – zum Glück für ihre Leser*innen – der Stoff so schnell nicht ausgehen.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Anna Katharina Hahn: Aus und davon
Berlin: Suhrkamp, 2020. 308 S.
ISBN: 978-3-518-42919-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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