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Christoph Schlingensief
Im Auge des Shitstorms

Vor 10 Jahren starb der Autor, Aktionskünstler, Talkmaster, Film-, Theater- und Opernregisseur Christoph Schlingensief. Nun erschien ein Gesprächsband, der seine Persönlichkeit zeigt, seine Obsessionen, seine Ängste, seine Feindschaft gegenüber dem „betonmäßig Stabilen“.

Von Holger Moos X!

Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt © Kiepenheuer & Witsch An Christoph Schlingensief (1960-2010) schieden sich die Geister. Manche sahen in ihm einen selbstverliebten Provokateur und zwanghaften Grenzverletzer, andere bewunderten ihn als Künstler des Extremen und Spontanen, der sich unermüdlich, obsessiv und ohne Rücksicht auf irgendwelche Verluste an den von ihm gesuchten und gesetzten Themen abarbeitete. Hätte es damals schon das Phänomen Shitstorm gegeben, hätte er sicherlich des Öfteren im Auge des Sturms gestanden.
 
Der nun erschienene, von der Witwe Aino Laberenz herausgegebene Gesprächsband Kein falsches Wort jetzt macht deutlich, worum es Schlingensief ging und was er niemals wollte: Er wollte sich um keinen Preis funktionalisieren lassen. Auch deshalb wechselte er wohl regelmäßig die Kunstsparten, drehte erst Filme, machte dann Theater, wurde eine Art Performance-Künstler, gründete eine Partei, unternahm Ausflüge ins Fernsehen und baute schließlich ein Operndorf in Afrika auf.

(K)ein Großhandelslager für Provokationen

Der Autor und Filmemacher Alexander Kluge attestiert Schlingensief in einem der Gespräche, dass er „ungeheure Mengen von Durcheinander organisieren kann“. Die beiden verstanden sich offenkundig. Und Kluges Charakterisierung trifft voll ins Schwarze, denn genau darum ging es Schlingensief: um die Ordnung der Unordnung.
 
„Kunst, Kirche, Kanzler & Co.“ unterschieden sich für Schlingensief nicht maßgeblich, „sie spielen alle mit einem Wissen, das sie nicht haben“. Genau das wollte er nicht. Wahrscheinlich war nicht so sehr Anarchie sein Ziel, sondern vielmehr die größtmögliche Freiheit in seiner Arbeit: „In der Freiheit des Machens liegt die Verantwortung, die ich als Künstler habe, und die Lust.“
 
Er wollte auf keinen Fall die Rolle des Künstlers als etwas wirrer, aber letztlich harm- und bedeutungsloser Schoßhund der Gesellschaft erfüllen. Das Unvorhersehbare war sein Metier: „Ich kann nicht bestreiten, dass mich das ziemlich langweilt, wenn Leute wollen, dass ich auf dem Tisch tanze und jeder ein kleines Provokationspaket mit Neonazis und Hamlet oder einem Container bei mir bestellen will. Wie so ein Großhandelslager für Provokationen.“ Ein Aufklärer, der Gewissheit versprechen und schaffen wollte, war er ebenfalls nicht: „Es gibt keine klare Botschaft! Wer das für sich in Anspruch nimmt, der lügt“, erklärte er 1994.

Auch ein Asylbewerber ist eine Geisel

Wahrscheinlich hätte Schlingensief die heutige Flüchtlingssituation an den europäischen Außengrenzen in seiner Arbeit thematisiert. „Auch ein Asylbewerber ist eine Geisel in unserem Land, der ausgeliefert und benutzt wird, bis er nicht mehr kann oder nicht mehr will“, so Schlingensief in einem Interview aus dem Jahr 1993 – ein Satz, der sehr aktuell klingt. Wie hätte er, der Asylsuchende in Container sperrte, das verarbeitet? Heute müssen wir froh sein, wenn dieses Thema wie zuletzt in einem 15-minütigen Film über das Flüchtlingslager Moria von den Entertainern Joko & Claas zumindest etwas unkonventionell angegangen wird.
 
Als Christoph Schlingensief in einem der letzten Gespräche 2009 danach gefragt wird, wie es nun – mit der Krebserkrankung – für ihn weitergeht, antwortet er Folgendes: „Manchmal sterben Künstler früh, und für ihr Werk ist das Off auch ganz gut. Bevor sie sich im Alter nur noch selbst zitieren. Deshalb will ich auf keinen Fall mehr Künstler sein, da will ich dann doch lieber leben.“ Diese Phase hat er nicht erreicht – schwer vorstellbar, dass er es hätte so weit kommen lassen.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Christoph Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt. Gespräche
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2020. 336 S.
ISBN: 978-3-462-05508-5

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