Gerald Knaus
Ein Plädoyer für humane Grenzen
Gerald Knaus war 2016 der Initiator des Flüchtlingspakts zwischen der Europäischen Union und der Türkei, der mittlerweile als gescheitert gilt. In seinem aktuellen Buch nimmt der Soziologe und Migrationsforscher einen neuen Anlauf, um für ein realistisches und trotzdem humanes Grenzregime zu werben.
Von Holger Moos X!
Wie lassen sich die Grenzen sichern, ohne Europa in eine Festung zu verwandeln? Wie lässt sich illegale Migration stoppen und gleichzeitig das Menschenrecht auf Asyl wahren? Ist eine „empathische“ Grenzüberwachung überhaupt möglich? Folgt man Gerald Knaus in seinem Buch
Welche Grenzen brauchen wir?, müssen Empathie und Kontrolle in der Flüchtlingspolitik keine einander ausschließenden Gegensätze sein.
Nach Knaus sind in der Diskussion um das Thema Migration Metaphern aus dem Reich der Hydraulik, etwa der viel zitierte „Migrationsdruck“ oder Aussagen wie „Migration ist wie Wasser in korrespondierenden Röhren“, zwar sehr populär, führen jedoch komplett in die Irre. In seinem Buch nimmt er einige Klischees und Mythen auseinander. Beispielsweise sei das Klischee von der Unaufhaltsamkeit von Migration falsch, diese hätte nicht den Charakter eines Naturgesetzes. Gleichzeitig sei es ein gefährliches Klischee, denn es rufe Gefühle der Machtlosigkeit hervor. Und wenn Menschen sich machtlos fühlen, legten sie all ihre Hoffnung in einfache Lösungen.
Falsch sei auch, dass die Dublin-Verordnung die Ankunftsländer im Süden Europas benachteilige. „Dublin war nie das Problem“ heißt ein Abschnitt, in dem Knaus belegt, dass die Zahl der Erstanträge für Asyl und erst recht die Zahl jener Flüchtlinge, die internationalen Schutz erhielten, in den Ländern des europäischen Südens in den letzten Jahren niedriger lagen als in den nordeuropäischen Ländern. Zumindest sehr fragwürdig seien zudem apokalyptische Prognosen, nach denen, demographisch bedingt, eine gewaltige Migrationswelle aus Afrika auf uns zurolle.
(Keine) Lehren aus der Geschichte
Besonders aufschlussreich sind die historischen Parallelen, die Knaus in dem Kapitel über „Unmenschliche Grenzen“ aufzeigt. Eine derartige Grenze habe es zur Zeit des Nationalsozialismus zwischen Deutschland und der Schweiz gegeben. Damals wies die Schweiz zehntausende Schutzsuchende kategorisch ab und schaffte sie über die Grenze nach Deutschland zurück. Die Schweiz habe damals vorgeführt, welche Mittel auch Demokratien recht sind, wenn es darum geht, einem „Migrationsdruck“ standzuhalten - indem sie mit brutaler Gewalt Flüchtlinge an ihren Grenzen abweisen.Eine weitere unmenschliche Grenze sei vor Australien entstanden. Das Land wollte 2011 mit der malaysischen Regierung vereinbaren, dass Malaysia Bootsflüchtlinge aus Australien aufnimmt und ihnen von den Vereinten Nationen betreute Asylverfahren ermöglicht. Als Gegenleistung wollte Australien Schutzbedürftige aus Malaysia aufnehmen, so die Idee, die das Prinzip des EU-Türkei-Pakts vorwegnahm. Doch die damalige Labor-Regierung war im Parlament auf Australiens Grüne angewiesen. Diese lehnten das Abkommen ab, da es nicht alle Asylbewerber in Malaysia einschloss. Die „Malaysia-Lösung“ scheiterte, zur Freude der Grünen Partei und Human Rights Watch. In der Folge stieg die Zahl irregulärer Einreisen per Boot nach Australien wieder stark an, Hunderte von Menschen kamen bei den Überfahrten ums Leben. Unter dem wachsenden Druck der Wählerschaft öffnete die Labor-Regierung die zuvor als unmenschlich verworfenen grausamen Internierungslager auf den Inseln Nauru und Manus (Papua-Neuguinea) wieder. Nach Knaus wurde hier eine mögliche pragmatische Lösung aus ethischen Gründen politisch verhindert, was in eine deutlich schlechtere Situation mündete.
Abschieberealismus und Migrationsdiplomatie
Im Kapitel über den mittlerweile gescheiterten europäisch-türkischen Flüchtlingspakt macht Knaus keinen Hehl daraus, dass er weiterhin stolz darauf ist. Der Deal sei nicht gescheitert, weil er verkehrt war, sondern weil er schlichtweg nicht umgesetzt wurde. Die nötigen Strukturen für die effiziente Organisation der Asylverfahren seien nicht aufgebaut worden, sodass die Asylverfahren verschleppt wurden. So strandeten die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln und saßen dort in ihrem Elend fest. Das Resultat sei eine Strategie der Abschreckung durch die unzumutbaren Zustände in den überfüllten Flüchtlingslagern.Was sind nun Knaus' Lösungsvorschläge? Zunächst plädiert er für den von ihm so genannten „Abschieberealismus“. Dieser beginne mit der Anerkennung der Tatsache, dass aktuell nur ein sehr kleiner Teil der abgelehnten Asylbewerber in die Herkunftsländer zurückgeführt werde, und davon wiederum nur ein Bruchteil in Länder außerhalb der EU. Afrikanische Staaten verweigerten sich einer Lösung, sie hätten wenig Interesse an der Rückkehr von Migranten.
Durch kluge „Migrationsdiplomatie" müsse es für die Herkunftsländer attraktiv sein, so Knaus, bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber zu kooperieren. Zusätzlich zu Migrationspartnerschaften würden die Schaffung legaler Migrationsmöglichkeiten und Visaliberalisierungen sowie private Patenschaften zu weniger illegaler Migration führen.
„Fairness bedeutet auch Schnelligkeit“
An den europäischen Außengrenzen müsse es rasche, aber menschenrechtlich belastbare Asylverfahren geben: „Fairness bedeutet auch Schnelligkeit, denn endloses Warten auf den Asylbescheid ist zermürbend.“Knaus plädiert also für einen mittleren Weg, für pragmatische Lösungen jenseits von Ideologien. Er schreibt sehr anschaulich und belegt seine Thesen mit aufschlussreichen Tabellen und Statistiken. Angenehm ist der Verzicht auf Dramatisierungen und floskelhafte Sprache. Knaus' Blick in die Geschichte zeigt, dass Staaten fast jede Zahl von Migranten abwehren können, wenn sie bereit zur Gewalt sind. Die politischen Akteure müssen deshalb verhindern, dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, in dem eine Politik menschenverachtender Grenzschließungen mehrheitsfähig werden kann.
München: Piper, 2020. 336 S.
ISBN: 978-3-492-05988-6