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Angelika Klüssendorf
Gespensterstunden

Eine Frau erschlägt ihren Mann mit der Axt – aus Mitleid oder weil sie ihn nicht mehr ertragen kann? Dieser lebt als Gespenst weiter und beobachtet das Leben in seinem Dorf.

Von Holger Moos X!

Klüssendorf: Vierunddreißigster September © Piper Walter hat einen Hirntumor, sein baldiger Tod ist gewiss. Er und seine Frau Hilde leben in einem Dorf in Ostdeutschland. Walter glaubte an den Sozialismus und wurde nach der deutschen Wiedervereinigung zu einem Wende-Verlierer: „Du bist zerbröckelt wie das Dorf“, heißt es an einer Stelle.

Früher war er kein einfacher Charakter, war missmutig, boshaft, lebenslang wütend. Doch die Krankheit verändert sein Wesen, plötzlich ist er freundlich und zugewandt. Hilde ist irritiert. Ist das noch ihr Mann? Ihr eigenes Leben betrachtet sie als unerfüllt. Gerne wäre sie eine Schriftstellerin geworden. Doch ihr bleibt nur die Bewunderung für die Schriftstellerin in der Nachbarschaft, die ein freies Leben führt, mit einem attraktiven Liebhaber, der nur „der Trommler“ genannt wird – ein solches Leben hätte Hilde gerne selbst gelebt.

Zu Silvester ist Hilde bei dieser Schriftstellerin eingeladen. In den Stunden zuvor erschlägt sie ihren Mann mit der Axt – und geht anschließend auf die Silvesterparty, tanzt dort bis in den frühen Morgen und verschwindet anschließend aus dem Dorf. Das ist der beklemmende, aber ganz beiläufig erzählte Anfang von Angelika Klüssendorfs neuem Roman Vierunddreißigster September.

Eigenwilliges Panoptikum

Anschließend irrt der tote Walter mit vielen anderen Geistern – auch der seiner Schwiegermutter mit dem vielsagenden Namen Gerda Engel ist dabei – in seinem Dorf herum und sinniert über sich, seine Frau, seine Beobachtungen. Wie biblische Engel stehen auch wir Leser*innen an der Seite von dem Säufer Heinrich alias „Schlucki“, dem einbeinigen Hans, der verwitweten Wirtin Branka, dem vernachlässigten Rollschuhmädchen, dem Manisch-Depressiven („Bipolarchen“ genannt), dem leseunkundigen „Eisenalex“, der Transfrau Gabriela mit ihrer Schildkröte Coco, der Schriftstellerin sowie einer Reihe anderer trauriger Gestalten. Das Ganze ergibt ein eigenwilliges dörfliches Panoptikum – eine Art geschlossene Gesellschaft.

Erzähltechnisch wird Walter aufgrund seiner jenseitigen, überparteilichen und bisweilen auch indiskreten Situation zu einem wenn nicht all-, so doch zumindest vielwissenden Erzähler. Beschränkt sind Walter und die anderen Geister aber doch. Sie können ihren altbekannten Radius nicht verlassen. Eine Gespensterfrau, die immer nur „die Verrückte“ genannt wird, erfasst ihr Schicksal luzide: „Nun weiß ich endlich, was die Hölle ist – in dem Dorf, das man verlassen wollte, begraben zu sein.“

Regen, der auf nichts mehr trifft

Die Perspektive wechselt kapitelweise, mal schaut man aus dem Jenseits dem Diesseits zu, dann wieder wird aus der Lebensrealität der Dorfbewohner*innen erzählt. Collagenhaft zeichnet Klüssendorf dieses Tableau der Dorfbewohner und Gespenster. Die Figuren sind individuell und typisiert zugleich.

Die Schriftstellerin sagt bedeutungsschwangere Sätze, wie sie Schriftsteller*innen oft zu sagen pflegen: „Das Leben ist nur eine Unterbrechung, ein kurzes Innehalten zwischen dem Nichts davor und dem Nichts danach.“ Was bedeutet die Abwesenheit eines Menschen? „Nur Regen, der auf nichts mehr trifft“, könnte die Antwort dieses ungewöhnlichen, unbedingt lesenswerten Romans lauten. Trost klingt anders. Und auch im Jenseits ist man auf ewig untröstlich.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September
München: Piper, 2021. 224 S.
ISBN: 978-3-492-05990-9

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