Im Laufe des Reformationsjahres 2017 kommen in dem Dossier „Gegenwarten Reformieren“ Trendsetter und Vordenker mit ihren persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen von Wandel und Innovation zu Wort. Wo liegen Potenziale und Notwendigkeiten für gegenwärtige und zukunftsorientierte „Reformationen“?
Eines der größten Probleme der Muslime ist, dass sie ihre eigene Religion nicht wirklich kennen. Der sogenannte Volksislam, wo jeder jedem etwas von seinem Halbwissen weitergibt, ist weit verbreitet. Die Muslime müssen daher dringend beginnen, auch in Sachen Religion, unter Einbeziehung des eigenen Verstandes und der Vernunft den Koran und die Überlieferungen in der eigenen Sprache zu lesen, Fragen zu stellen und gegebenenfalls über Zweifel zu diskutieren. Sie müssen sich zudem von starren patriarchalen, frauenfeindlichen Strukturen verabschieden. Eine historisch-kritische Auslegung ist unumgänglich, damit auch im Islam eine geschlechtergerechte Interpretation und Lesart des Islam eine Chance hat. Der Fremde oder der Andere ist nicht immer ein Feind, nur weil er einer anderen Religion und Kultur angehört. Es gilt, den friedlichen, herzlichen Dialog mit anderen Menschen zu suchen, um Frieden zwischen den Religionen, ohne den es keinen Weltfrieden geben wird, herzustellen. Um all dies in die Tat umzusetzen haben wir die Ibn Ibn Rushd-Goethe-Moschee GmbH in Berlin gegründet. Neben der Vermittlung des Koran in vielen Sprachen setzen wir uns für die Gleichberechtigung der Geschlechter und aller Identitäten und Orientierungen ein.
Dies wollen wir vorleben, indem wir z.B. Männer und Frauen gemeinsam beten und eine Vorbeterin (Imamin) das Freitagsgebet leiten sowie die Predigt halten lassen. Außerdem wird es in unserer Moschee keine Trennung zwischen Sunniten, Schiiten, Aleviten und anderen Strömungen geben. Ibn Rushd und Goethe waren Brückenbauer zwischen dem Orient und Okzident. Diesem Erbe und dem Erbe des Mevlana Celaleddin Rumi fühlen wir uns verpflichtet.
„Komm! Komm! Wer du auch bist.
Wenn du auch Götzendiener oder Feueranbeter bist.
Komm! Dies ist die Tür der Hoffnung, nicht der Hoffnungslosigkeit!
Auch wenn du Tausendmal dein Versprechen gebrochen hast.
Komm! Komm! wieder! (Mevlana Celaleddin Rumi)
Biografie
Seyran Ateş ist Rechtsanwältin, politische Aktivistin und Publizistin. Während ihres Jurastudiums arbeitete sie in einer Beratungsstelle für türkische Frauen und wurde dort bei einem Attentat 1984 lebensgefährlich verletzt. Ab 1997 arbeitete sie als Rechtsanwältin, gab diese Tätigkeit aber von 2006 bis 2012 aufgrund von Morddrohungen auf. Seyran Ateş setzte sich unter anderem für die strafrechtliche Verfolgung von Zwangsehen ein.
Im Juni 2017 gründet sie die liberal ausgerichtete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin. Seyran Ateş hat sich in zahlreichen Büchern immer wieder mit Genderfragen innerhalb des Islam und mit Fragen der Integration auseinandergesetzt. Ihr Wirken wurde vielfach ausgezeichnet, unter andrem mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse 2014.