Geschichten sammeln
Welt(en) artikulieren

Angesichts der ökologischen Verwerfungen unserer Zeit stellt sich die Frage, welche Kunst und welche Theoriearbeit es vermag, Visionen für ein besseres speziesübergreifendes Zusammenleben aufzuzeigen. Hinweise finden sich in den Arbeiten von Vinciane Despret und Donna Haraway, die einen spekulativen Modus des Geschichtenerzählens kultivieren, wie der Film „Camille & Ulysses“ zeigt.
Von Katharina Hoppe X!
Nicht nur die Pandemie hat die vergangenen Monate geprägt. Die verheerenden Folgen der Erderwärmung, des Artensterbens und des Extraktivismus werden immer sicht- und spürbarer, auch im globalen Norden. Und auch die wahrscheinlichste Ursache der COVID-19-Pandemie – die Zoonose – verweist auf die Tatsache, dass speziesübergreifende Zusammenhänge in ihrer relativen Unverfügbarkeit für menschliches Leben gefährlich werden können und dies mit immer höherer Wahrscheinlichkeit auch werden. Vor allem aber macht diese Gemengelage deutlich, dass und in wie vielfältigen Weisen „wir“ den Planeten unfreiwillig mit menschlichen und nicht-menschlichen Anderen teilen. Diese Einsicht ist selbstverständlich viel älter als die Pandemie.
Wie lassen sich Zukünfte neu denken?
Die pandemische Erfahrung hat die Verwobenheiten mit anderen Menschen, mit dem Speichel und Atem der Anderen, ebenso wie mit weit entfernten anderen Tieren, Märkten, Viren, Bakterien, Menschen und Nicht-Menschen aber unterstrichen. Dabei wurde auch erfahrbar, dass Sozialität mitnichten in rein menschlichen Beziehungen aufgeht. Kontakte, Berührungen und Koexistenz binden uns freiwillig und unfreiwillig an eine ganze Reihe menschlicher und nicht-menschlicher Anderer und können gefährlich werden. Die speziesübergreifenden Beziehungen sind aber keineswegs ausschließlich destruktiv, sondern eben auch ermöglichend, nährend und in dieser doppelten – genuin ambivalenten – Weise konstitutiv für Sozialität. Viele ökologischen, speziesübergreifenden Beziehungsgefüge sind nun allerdings so tiefgreifend beschädigt, dass sie teilweise sogar irreversibel verloren sind. Welche Theoriearbeit und welche Kunst können diesen Entwicklungen begegnen? Welche Denkformen vermögen es, Trauerarbeit zu leisten, aber auch Zukünfte zu artikulieren, die immer noch möglich sind?Zwei Denker*innen, die sich in besonderer Weise um Analysen und Transformationen des beschädigten speziesübergreifenden Zusammenlebens bemüht haben, sind die belgische Wissenschaftsphilosophin Vinciane Despret und die US-amerikanische Biologin und feministische Theoretikerin Donna Haraway. Ihre Arbeiten zeichnen sich durch einen spezifischen Zugang zur Welt aus. Wissen über die Welt – so sind sich beide einig – ist gutes Wissen, wenn Erkennende ihre Involviertheit mit der Welt anerkennen und sich im Erkennen bewusst mit der Welt involvieren. Despret hat so einen epistemologischen Modus wie folgt beschrieben:
Wissen von der Leidenschaft zu befreien, gibt uns keine objektivere Welt, sondern nur eine Welt ‚ohne uns‘, und damit auch ohne ‚sie‘ – Grenzen sind so schnell gezogen. Und solange diese Welt als eine Welt erscheint, ‚um die wir uns nicht sorgen‘, wird sie auch eine verarmte Welt sein, eine Welt des Geistes ohne Körper, eine Welt der Körper ohne Geist, Körper ohne Herzen, Erwartungen, Interessen, eine Welt enthusiastischer Automaten, die seltsame und stumme Kreaturen beobachten; anders gesagt, eine nur notdürftig artikulierte (und notdürftig artikulierende) Welt.
Vinciane Despret (2004)
Wissen: ein Prozess des Kennenlernens der Welt
Den Projekten von Despret und Haraway geht es darum, sich der Komplexität der mannigfaltigen speziesübergreifenden Bedingungen von Sozialität zu nähern und in dieser Weise die Artikulationen der Welt ernst zu nehmen. Was in dieser Weise sichtbar gemacht werden kann, ist, dass es in der Tat ein Irrtum ist zu glauben, die Welt warte darauf, dass „wir“ sie dekodieren; vielmehr ist Wissen ein Prozess des Kennenlernens der Welt, die ihrerseits nicht stillsteht. So ein Prozess braucht auch Leidenschaft – leidenschaftliche, kritische Involviertheit – und bekräftigt die Tatsache, dass es nicht nur Menschen sind, die sich in der Welt artikulieren oder die Welt zur Artikulation bringen.Der Welt in Weisen zu begegnen, die diese nicht als stumme Verfügungsmasse begreifen, bedeutet sich an einer Ethik auszurichten, die ernsthafte Neugier und eine fragende Haltung ins Zentrum stellt. Beide diese Aspekte ermöglichen es, Individuen und Körper in ihren mannigfaltigen Ermöglichungsbedingungen zu verstehen. Solche Begegnungen versuchen Andersheit ernsthaft zu begegnen und nicht für etwas Eigenes zu vereinnahmen – gerade in Bezug auf nicht-menschliche Andere, gilt es ein Ethos der Neugier zu kultivieren, wenn neue Wege des Zusammenlebens imaginiert werden sollen.
Wie der vom Goethe-Institut Brüssel in Kooperation mit La Loge gezeigte Film Camille & Ulysses von Diana Toucedo demonstriert, ist es die Kraft des Geschichtenerzählens, die in besonderer Weise zur Artikulation anderer immer noch möglicher Welten beitragen kann. Bei Versuchen der Artikulation geht es darum, Dinge präsent zu machen, oder, um eine Formulierung von Isabelle Stengers aufzugreifen: Artikulation kann als eine Praxis des „In-die-Gegenwart-Kommens“ verstanden werden; es gilt Präsenzen herzustellen. Beispielsweise kunstwissenschaftliche Praktiken, die sich in Schreiben und Filme wie Camille & Ulysses materialisieren, können dazu beitragen, Präsenzen herzustellen: Dabei handelt es sich um dichte Gegenwarten, die sowohl ihre eigene Gewordenheit mit sich führen und erzählen, als auch spekulative Qualitäten aufweisen und Zukünfte entwerfen.
Die Praxis des Sammelns
Despret und Haraway beziehen sich in Bezug auf die Frage des Erzählens immer wieder auf die Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin. Ihre Carrier Bag Theory of Fiction skizziert einen feministischen Erzählstil, der anti-heroisch ist. Anstelle „seiner“ Geschichte, der Geschichte über einen Helden, versteht Le Guin das Geschichtenerzählen nicht als Inszenierung eines großen Showdowns oder einer apokalyptischen Erzählung, sondern als Praxis des Sammelns. Das Einsammeln von Geschichten in einem Träger oder Behälter beschreibt Praktiken ohne Ende. Es handelt sich um eine erzählerische Praxis, die anerkennt, dass es „kein ‚Happy End‘, sondern ein Nicht-Ende“ braucht. Le Guin beschreibt gerade dies als spezifischen Realismus der Science Fiction: „einen seltsamen Realismus, aber es ist eine seltsame Realität.“ Diese seltsame Realität gilt es zu erzählen und darin nicht abzuschließen, sondern zu öffnen. Spekulative Geschichten können erkunden, welche anderen Welten immer noch möglich sind. Und es ist wichtig, diesen Möglichkeiten zur Artikulation zu verhelfen. Wir werden mögliche Zukünfte finden müssen, indem wir weiterhin Geschichten sammeln und speziesübergreifende Konstellationen für lebbare Zukünfte erkunden; oder anders gesagt: indem wir (andere) Welten artikulieren.Literatur
- Despret, Vinciane (2004), The Body We Care for: Figures of Anthropo-Zoo-Genesis, in: Body & Society 10(2-3), S. 111-134.
- Isabelle Stengers (2005), The Cosmopolitical Proposal, in: Bruno Latour und Steve Woolgar (Hg.), Making Things Public, Boston: MIT Press, S. 994-1003.
- Donna Haraway (1992): Monströse Versprechen. Eine Erneuerungspolitik für un/an/geeignete Andere, in: dies., Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg: Argument Verlag, 2017, S. 35-123.
- Ursula K. Le Guin (1986), The Carrier Bag Theory of Fiction, in: dies. Dancing at the Edge of the World. Thoughts on Words, Women, Places, New York: Grove Press 1989, S. 165-170.