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Die Beziehung von Mensch und Natur
Reflexionen zur Anthropause

Ziege in Llandudno (Wales).
Ziege in Llandudno (Wales). | Foto (Ausschnitt): © Andrew Stuart

Die COVID-19-Pandemie zeigt uns, dass wirtschaftliche, soziale und ökologische Systeme veränderbar sind und darüber hinaus in einem schnelleren Tempo, als bisher angenommen. Adam Searle und Jonathon Turnbull stellen sich die Frage: Was können wir durch Lockdowns über die Beziehung zwischen Mensch und Natur lernen?

Von Adam Searle und Jonathon Turnbull X!

Naturforscher*innen erkannten in dem drastischen Rückgang menschlicher Aktivitäten infolge der COVID-19-Pandemie eine einmalige Gelegenheit, um die Komplexität nichtmenschlichen Lebens ohne den Hintergrundlärm von menschlicher Industrieaktivität und Fortbewegung zu beobachten, zu messen und nachzuvollziehen. In einem in der Zeitschrift Nature veröffentlichten Artikel prägten der Biologe Christian Rutz und seine Mitautor*innen für diese Phase verminderter menschlicher Aktivität den Begriff „Anthropause“. Insbesondere wiesen sie darauf hin, dass die Anthropause „wichtige Erkenntnisse über die Interaktionen zwischen Mensch und Tierwelt im 21. Jahrhundert liefern könnte“.

Für uns als Kultur- und Umweltgeographen war die Anthropause ein unglaublich provokativer und produktiver Begriff, um über die Beziehung zwischen Mensch und Natur während der Pandemie nachzudenken. Unsere weitere Entwicklung - und Kritik - des Begriffs der Anthropause basiert auf der Annahme, dass es sich nicht um ein singuläres Ereignis handelt. Vielmehr wurde die Anthropause als gelebte Erfahrung in verschiedenen sozioökonomischen, kulturellen, politischen und ökologischen Kontexten unterschiedlich wahrgenommen, da beispielsweise eine Vielzahl von Menschen keinen Anspruch auf eine Pause geltend machen konnte, darunter die so genannten systemrelevanten Arbeitskräfte. Dabei sollte auch auf die historischen Präzedenzfälle zur COVID-19-Anthropause hingewiesen werden, die in unterschiedlichem Ausmaß zu einer umfassenden und raschen Verlangsamung der anthropogenen Aktivität geführt haben. Zu nennen ist hierbei die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.

Die „Rückeroberung“ menschlichen Lebensraums durch Tiere

Dem wissenschaftlichen Impuls, die Anthropause zu messen und zu quantifizieren, gingen alltäglichere Wahrnehmungen der Reaktionen der nichtmenschlichen Welt auf die Ausgangssperren voraus. Geschichten über die „Rückeroberung“ durch Tiere von menschlichen Lebensräumen wie Städten verbreiteten sich weithin in unzähligen Kontexten. Zu nennen sind diesbezüglich die Wildschweine, die durch die leeren Straßen Barcelonas streiften, Makaken, die in einem verlassenen Tempel in Thailand aneinander gerieten, und eine Herde Ziegen, die in der walisischen Stadt Llandudno randalierten. Parallel zu diesen Anekdoten wurden ironische Memen propagiert, begleitet vom Slogan: Die Natur heilt sich selbst.
Meme mit Mammuts, die in die ukrainische Stadt Kiew zurückkehren, von der Künstlerin Karolina Uskakovych. Meme mit Mammuts, die in die ukrainische Stadt Kiew zurückkehren, von der Künstlerin Karolina Uskakovych. | Illustration (Ausschnitt): © Karolina Uskakovych
Einige dieser Anekdoten der Rückeroberung, die man „wiederauflebende Natur“ bezeichnen kann, erwiesen sich später als falsch. Trotzdem waren sie ein Beleg dafür, dass sich die Beziehung zwischen Mensch und Natur in der Anthropause verändert hat, und zwar in Form von Vorstellungen darüber, wo bestimmte Tiere sich aufzuhalten haben, bis hin zur affektiven Fähigkeit nichtmenschlicher Lebewesen, die mit dem Lockdown verbundenen Ängste zu lindern.

Am 18. März 2020 wandten sich die berühmten britischen Naturforscher Chris Packham und Megan McCubbin live auf Packhams Facebook-Seite an ihre Follower. „Was werden wir tun, um nicht durchzudrehen und unsere geistige Gesundheit zu wahren?‟, fragte Packham seine im Lockdown befindlichen Zuschauer*innen in der Morgendämmerung bei Vogelgesang. „Nun“, fuhr er fort, „ich weiß, was ich tun werde. Ich werde diesen Rotkehlchen zuhören.“

Die als Self-Isolating Bird Club (SIBC) bekannt gewordene Gruppe entwickelte sich schnell zu einem Social-Media-Kollektiv, auf dessen Facebook-Seite Bilder von wild lebenden Tieren in örtlichen Grünanlagen hochgeladen werden konnten. Die Gruppe wurde schnell populär und hat einen Raum für angehende und erfahrene Naturfreunde geschaffen, die sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam ihr Wissen über die natürliche Welt vertiefen.

Feldforschung zur Beziehung zwischen Mensch und Natur

Als uns bewusst wurde, dass die Beliebtheit des SIBC einen ethnografischen Moment darstellt und somit ein Fenster zu den Besonderheiten der Beziehung zwischen Mensch und Natur während der Anthropause ist, beschlossen wir gemeinsam mit Professor Jamie Lorimer, eine zeitlich begrenzte qualitative und ethnografische Feldforschung mit Mitgliedern des SIBC durchzuführen. Ziel dabei war es, die früheren, überwiegend spekulativen Arbeiten über die Beziehung des Menschen zur Natur während des Lockdowns empirisch zu untermauern. Diese Feldarbeit führte zu mehreren wichtigen Erkenntnissen, die über die Anthropause hinaus von Bedeutung sind.
Fotografie eines Fuchses in einem Garten, aufgenommen mit einer während des Lockdowns gekauften Wildkamera. Die Aufnahme wurde von einem Forschungsteilnehmer aus dem Großraum Manchester zur Verfügung gestellt. Fotografie eines Fuchses in einem Garten, aufgenommen mit einer während des Lockdowns gekauften Wildkamera. Die Aufnahme wurde von einem Forschungsteilnehmer aus dem Großraum Manchester zur Verfügung gestellt. | Foto (Ausschnitt): © Adam Searle und Jonathon Turnbull
Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass digitale Technologien die Menschen von der Natur entfernen, konnten wir zum einen feststellen, dass während der Anthropause digitale Technologien zahlreiche sinnvolle Beziehungen zwischen Mensch und Natur ermöglicht haben. Vom Aufstellen von Wildkameras in Gärten über die Live-Übertragung von Raubvögeln bis hin zur Nutzung von Onlineanwendungen zur Artenerkennung wie iNaturalist, haben sich viele Menschen digitalen Technologien zugewandt, um neue Verbindungen zu heimischen und weiter entfernten Tieren in freier Natur zu knüpfen und ihr diesbezügliches Wissen zu erweitern.

Zum anderen konnten wir beobachten, dass Menschen, die sich vor der Pandemie nicht für den Naturschutz engagierten oder engagieren konnten, durch sozialen Medien die Möglichkeit erhielten, sich digital mit der Natur zu verbinden. Der SIBC erwies sich als eine integrative und unterstützende Gemeinschaft, in der Menschen ohne Angst vor Verurteilung Fragen stellen konnten. Die zahlreichen Fragen nach Tipps zur Identifizierung von häufig vorkommenden Vogelarten, wie Tauben, wurden mit Begeisterung und Zuspruch aufgenommen. Online-Communities und digitale Technologien haben demnach das Potenzial, die Demokratisierung von Umweltwissen voranzutreiben und Raum für alternatives ökologisches Fachwissen zu schaffen.

Ein weiteres Ergebnis war, dass Menschen die Natur vor ihrer Haustür mit Wertschätzung wahrnahmen, die sie zuvor übersehen oder als wertlos angesehen hatten, wie „schmuddelige“ Stadttauben. Ohne den Luxus des Reisens begannen viele mit Tierbeobachtungen von ihren Balkonen oder Fenstern aus und bauten Beziehungen zum nichtmenschlichen Leben auf, das sie schon immer umgeben hatte, dem sie aber bis dato kaum Beachtung geschenkt hatten. Viele definierten für sich neu, was sie als sinnvolle Begegnung mit der Natur erachten, und lokale Grünflächen wurden zu Orten, an denen artenübergreifende Begegnungen möglich wurden.

Der SIBC hat gezeigt, dass während der Lockdowns der Wunsch weit verbreitet war, mit nichtmenschlichen Arten in Kontakt zu treten. Viele Mitglieder bemühten sich aktiv um die Schaffung solcher Verbindungen, indem sie beispielsweise Gemüse auf ihrem Balkon anbauten oder ihr erstes Fernglas zur Beobachtung von Tieren in freier Natur erwarben. Darüber hinaus veränderte eine erhebliche Anzahl der Mitglieder die Nutzweise ihrer Grünflächen, um aktiv Möglichkeiten für das Gedeihen nichtmenschlichen Lebens zu schaffen. Einige errichteten räumliche Strukturen für funktionierende Wildtierkorridore, darunter „Igelhotels“ und Naturteiche, während andere zur Vermehrung von Bestäuberinsekten „wilde“ Gärten mit Wildblumenbeeten anlegten. Die große Beliebtheit des mähfreien Monats Mai während des Lockdowns im Jahr 2020 in Großbritannien – eine Kampagne zur Schaffung von artenreicherem Rasen – zeugt von der weit verbreiteten ökologischen Sensibilität in dieser Zeit.

Die anhaltenden Auswirkungen der Pandemie und das Flickwerk aus Lockerungen und Verschärfungen in verschiedenen Situationen machen es schwierig, eine fundierte Reflexion zur Anthropause anzustellen. Bisher können wir jedoch festhalten, dass die Annahme, ein Lockdown sei zwangsläufig für die Tierwelt von Vorteil, ein entpolitisierender Akt ist. Durch ihn werden auf gefährliche Weise die umfangreichen Maßnahmen außer Acht gelassen, die erforderlich sind, um die Zukunft zahlreicher Arten zu sichern. Anstatt naiv auf die Erzählungen von der „wiederauflebenden Natur“ zu bauen, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die tatsächlich eingetretenen Veränderungen: eine zunehmende und weitreichende Beschäftigung mit der Natur und eine Fülle an aktiven und innovativen Bemühungen um das nichtmenschliche Leben. Wir hoffen, dass die sinnvollen Verbindungen, die Menschen mit der nichtmenschlichen Welt eingegangen sind, sich auch nach den schrittweisen Lockerungen der Lockdown-Maßnahmen sowohl digital als auch physisch weiter vertiefen werden. 
 

Literatur

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