Das Jahr 2014 war geprägt von runden Jubiläen – auch im deutschen Jazz. Die Berliner Jazztage etwa feierten ihre 50. Ausgabe, das Deutsche Jazzfestival in Frankfurt (gegründet 1953) fand zum 45. Mal statt. Doch statt nostalgischer Rückschau geht der Blick nach vorn: Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall betritt der gesamtdeutsche Jazznachwuchs die große Bühne, endlich tragen die Bemühungen um bessere Arbeitsbedingungen erste Früchte. Und neue Festival-Konzepte begeistern ein breites Publikum.
So begann das Jahr 2014 für den Jazz in Deutschland also völlig zu Recht in festlicher Stimmung. Offenbar geht es dem Jazz gut. Was einst Avantgarde-Musik war, ist heute als Hochkultur etabliert, findet in gut ausgestatteten Konzertsälen und auf Festivals statt, auf einschlägigen Sendeplätzen auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und wird auf Galas der Musikwirtschaft preisgekrönt. Sogar studiert werden kann der Jazz: an 18 Hochschulen bundesweit.
Und hier zeigt sich, dass – trotz aller Feierstimmung – doch nicht alles gut ist für den Jazz. Denn die jährlich etwa 200 hervorragend ausgebildeten Absolventen dieser Hochschulstudiengänge konkurrieren mit tausenden Kollegen in einer nach wie vor kleinen kulturellen Nische. Nur 420 Spielstätten zählt ein Jazzclub-Report des Jazzinstituts Darmstadt bundesweit, die zumindest ein- bis zweimal im Monat Jazzprogramm veranstalten; 65 von ihnen tun dies auch mehrmals in der Woche, nur 16 fast täglich. Und der Anteil des Jazz am schrumpfenden Tonträgermarkt beträgt nur 1,4% (im Jahr 2013). Ganz abgesehen davon, dass ein Nischen-Repertoire wie der Jazz in den Rastern der zunehmend bedeutenden Streaming-Dienste als „unsichtbares Genre“ verschwindet, wie Julian Dörr in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Es hat sich ausgejazzt warnt.
Aktiv in eigener Sache
Doch als Improvisatoren sind Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker daran gewöhnt, mit veränderlichen Rahmenbedingungen umzugehen – und haben schon in den vergangenen Jahren damit begonnen, eine Vielzahl von Initiativen und Aktivitäten zu entwickeln, die inzwischen sichtbare Wirkung entfalten.
In Köln und Berlin haben sich jeweils Kollektive junger Musiker zusammengefunden, die bei selbst organisierten Festivals ihre eigene Lesart eines aktuellen, unkonventionellen Jazz präsentieren. Das Jazzkollektiv Berlin etwa hatte zur zehnten Ausgabe seiner Kollektiv Nights befreundete Musiker eingeladen, darunter das Zeno De Rossi Quartet vom italienischen Kollektiv El Gallo Rojo oder die beiden Veteranen des ostdeutschen Free Jazz, Ulrich Gumpert und Günter „Baby“ Sommer im Duo. Das Kölner Kollektiv Klaeng (zu dem die Musiker Jonas Burgwinkel, Tobias Christl, Pablo Held, Tobias Hoffmann, Niels Klein, Frederik Köster und Robert Landfermann gehören) konnte bereits im Frühjahr die ersten drei CDs des eigenen Labels Klaeng Records veröffentlichen: Ein Sextett um Robert Landfermann mit dem Titel Tiefgang, Basz, ein Quartett der Bassisten Dieter Manderscheidt, Sebastian Grams, Joscha Oetz und Robert Landfermann, und 11 Famous Songs Tenderly Messed Up vom Tobias Hoffmann Trio, das bekannte Hits aus der Popmusikgeschichte neu verhandelt.
Und das Klaeng-Kollektiv ist nur ein Element der lebendigen Kölner Jazzszene. Zum dritten Mal bot am ersten Januar-Wochenende das Winterjazz-Festival im Stadtgarten einen Überblick mit insgesamt 21 Bands auf fünf Bühnen an nur einem Abend. Das Klangspektrum war breit: Waren anfangs die Strömungsgeräusche des Avantgarde-Posaunisten-Duos MM Squared Session (Matthias Müller und Matthias Muche) im voll besetzten Konzertsaal kaum zu vernehmen, brachte das Quartett TAU mit seiner handfesten Mischung von Elektronik, Rock und Jazz den nahe gelegenen Club Zimmermann´s zum Vibrieren, während der Vinograd Express um die Klarinettistin Annette Maye und Trompeter Udo Moll mächtig auf den Gleisen Folklore und modale Jazztraditionen anrollte.
Auch der Winterjazz ist ein von Musikern selbst organisiertes Festival, die Saxofonistin Angelika Niescier hatte die Idee dazu aus New York mitgebracht: ein selbstbewusstes Schaufenster der vielfältigen Jazzszene bei freiem Eintritt.
Auf dem Marsch durch die Institutionen
Aber nicht nur auf den Bühnen engagieren sich Jazzmusiker in Deutschland für eine verbesserte Wahrnehmung ihrer Anliegen. Auch in der Bundeskonferenz Jazz sind sie vertreten, neben den anderen Akteuren der Jazzszene: von Konzertveranstaltern und Tonträgerproduzenten bis hin zu Hochschulen und Rundfunk. Und langsam beginnt die Lobby-Arbeit erste Früchte zu tragen: Im Juni überreichten die Sprecher des Zusammenschlusses Siegmund Ehrmann, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag, einen Bericht zur Situation des Jazz in Deutschland. Damit kann die Diskussion eine neue Qualität erreichen, denn der umfassende Bericht formuliert auch konkrete Ziele für eine Verbesserung der prekären Bedingungen, die die deutsche Jazzszene heute prägen.
Ein erster Schritt zur Stärkung der Infrastruktur für den Jazz war 2013 die Einrichtung des Spielstättenprogrammpreises durch die Bundesregierung. 2014 konnte er schon zum zweiten Mal ausgelobt werden und zeichnete insgesamt 31 Spielstätten und 27 Veranstaltungsreihen aus 14 Bundesländern in den Bereichen Jazz, Pop und Rock mit Preisgeldern von bis zu 30.000 Euro aus. Immerhin zwei der drei Hauptpreise gingen dabei im September an den Bunker Ulmenwall in Bielefeld und Jazz im Paradies in Jena.
Die Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) hatte bereits Anfang 2012 mit ihrem "Neustart" von sich reden gemacht und wird inzwischen auch als aktive Interessenvertretung der Musiker wahrgenommen. In einer Pressekonferenz während der Jazzahead im April etwa wurde die sogenannte „Willenserklärung zur Einhaltung von Mindeststandards im Jazz“ vorgestellt, die die UDJ gemeinsam mit rund 50 Veranstalterinnen und Veranstaltern erarbeitet hatte. Die Unterzeichner erklärten beispielsweise eine Gage von mindestens 250 Euro pro Musiker als wünschenswert und vergaßen nicht hinzuzufügen: „Realistisch sind solche Honorare allerdings nur für Spielstätten und Festivals, deren Gesamtausgaben zu mindestens einem Drittel mit öffentlichen Zuschüssen gedeckt werden.“ Auch wenn die Erklärung so nur eingeschränkt wirksam ist, setzt die stetig zunehmende Zahl der Unterzeichner ein deutliches Zeichen: Während die Bundesregierung im Verlauf des Jahres einen flächendeckenden Mindestlohn für Angestellte diskutierte, leben viele Jazzmusiker in prekären Verhältnissen; mit Einkünften, die im Durchschnitt nicht weit über dem fiskalisch ermittelten Existenzminimum rangieren.
Neue Orte finden
Andererseits entwickeln Jazzmusiker aus der Erfahrung der chronischen Unterfinanzierung heraus auch gänzlich neue und überraschende Konzepte. Das Festival XJazz, das im Mai 2014 seine Premiere in Berlin-Kreuzberg hatte, musste ohne öffentliche Förderung auskommen und bezeichnet sich mit mehr als 9.500 Besuchern bei 48 Konzerten auf sechs Bühnen stolz als "das größte Jazzfestival Berlins". Sebastian Studnitzky, Ideengeber und künsterlischer Leiter des XJazz, ist selbst als aktiver Musiker international unterwegs und gut vernetzt. Er lud Freunde und Kollegen ein, aufzutreten, ohne eine Festgage garantieren zu können. Als prominentester Gast kam der Trompeter Nils-Petter Molvaer zu einem Gastspiel im Duo mit dem Berliner Techno-Veteran Moritz von Oswald. Und die bekannte isländische Pop-Sängerin Emiliana Torrini zeigte ihre Songs auf der Bühne des Kreuzberger Clubs Bi Nuu in ungewohntem musikalischen Rahmen. Beiträge etwa von dem Klarinettisten Claudio Puntin und der Harfenistin Kathrin Pechlof „verliehen den ätherisch-schlichten Songs wahlweise einen Folk-Jazz-Anstrich, ließen es verhalten psychedelisch rocken oder streuten Klezmer-Anleihen ein“, wie Tim Caspar Boehme für die Tageszeitung schrieb. Ein niedrigschwelliges Programm-Angebot an ein breites Publikum also.
Andererseits setzte das Festival-Programm mit dem Clubabend des britischen DJ-Duos Nightmares on Wax, begleitet von Studnitzky mit einer Berliner Jam-Band auf einen weit gefassten Jazz-Begriff – „XJazz“ eben. Dass schließlich die Spielorte des Festivals ohnehin zu den hochfrequentierten Hotspots des Kreuzberger Nachtlebens gehörten, brachte dem Festival zusätzlich einen Image-Gewinn als „jung und unkompliziert“ ein.
So konnten auch die lokalen und weniger bekannten Bands, deren Konzerte etwa 75% des Programms ausmachten, bei ihren XJazz-Auftritten ein neues Publikum für ihre teilweise auch komplexeren Klänge begeistern.
Einen Imagewandel durch die Wahl eines neuen Veranstaltungsortes konnte am Pfingstwochenende 2014 auch das traditionsreiche mœrs festival verbuchen. Jahrzehntelang war das größte Zirkuszelt Europas, aufgestellt im Freizeitpark der Stadt Moers, der zentrale Spielort des Festivals gewesen, umgeben von mehr oder weniger wilden Campern und Verkaufsständen aller Art; so bekam das Festivalwochenende nicht selten die Atmosphäre eines alternativen Volksfestes.
Doch 2012 hatte die Stadt Moers angekündigt, ihre Förderung des Festivals erheblich zu kürzen, und so wurde ein kostengünstiger und dauerhafter Festivalort gesucht – und gefunden. Nach dem Umbau einer ehemaligen Tennishalle füllten zum Auftaktkonzert 44 Bassistinnen und Bassisten die bis dahin noch jungfräuliche Bühne der neuen Festivalhalle Moers. Der Kölner Bassist Sebastian Gramss hatte für diese internationale „Bassmasse“ eigene und Kompositionen des Wuppertaler Bassisten Peter Kowald arrangiert, dessen Instrument er auch in Moers spielte und damit den neuen Spielort mit der Geschichte des Festivals verband. Immerhin hatte Kowald 1972 zu den Mitbegründern des mœrs festival gehört und wäre im April 2014 siebzig Jahre alt geworden.
Gedenktage und Denkanstöße
Jahrestage gab es dann noch gegen Ende des Jahres zu feiern. Das Jazzfest Berlin wurde 50 Jahre alt und gehört damit zu den ältesten und renommiertesten Jazzfestivals in Europa. Doch die Rückschau auf das Gründungsjahr 1964 blieb alles andere als nostalgisch, sondern bewies, wie fruchtbar die Wurzeln des Jazz in die Gegenwart reichen. Mit ihrem Projekt So Long Eric! erinnerten Aki Takase und Alexander von Schlippenbach an den 1964 in Berlin verstorbenen Eric Dolphy und auch die junge Saxophonistin und Bassklarinettistin Silke Eberhardt erwies Dolphy ihre Reverenz: Bei Recherchen war sie auf Notizen zu seiner Love Suite gestoßen, die unvollendet geblieben war. Mit ihrer zum Septett erweiterten Bläserbesetzung Potsa Lotsa zeigte sie, welch lebendiger Farbenreichtum noch heute in Dolphys Kammerkomposition leuchtet.
Dem Festivalleiter Bert Noglik war es in seinem Programm gelungen, Tradition und Zukunft des Jazz vielfältig miteinander zu verknüpfen: von der Fats Waller Dance Party, in der Jason Moran die fast hundertjährigen Gassenhauer Wallers intelligent in zeitgemäße Dialoge mit HipHop, Funk und R&B brachte, bis zum Festivaldebüt der jungen Eva Klesse, die aus ihrem Geburtsort in NRW zum Musikstudium nach Leipzig ging und heute für eine neue Generation „gesamtdeutscher“ Jazzmusiker mit eigenständiger Klangsprache steht.
Alles in allem also: Gute Aussichten für den Jazz.