Jazz 2011
Ein „Mega-Express“ für Blue notes und ihre Vermittlung

Jazz braucht für seine öffentliche Wahrnehmung bei Journalisten und Vermittlern die gleiche Leidenschaft und hohe Qualifikation, wie er sie bei den Musikern bereits hat. Beobachtungen von Roland Spiegel zum deutschen Jazz-Jahr 2011.

Andromeda Mega Express Orchestra, Jazzfest Berlin 2011; Andromeda Mega Express Orchestra, Jazzfest Berlin 2011; | Foto: © Grzegorz Drygala Eines ist sicher: 2011 war ein besonders reichhaltiges Jahr für den deutschen Jazz. Ein Jahr, in dem einige Musiker ganz herausragende Auftritte oder CD-Veröffentlichungen verbuchen konnten. Und ein Jahr, in dem sehr wichtige Impulse in Sachen Jazz-Vermittlung gegeben wurden, vor allem durch die vorbildliche Arbeit des Jazz-Instituts in Darmstadt.

Bezeichnenderweise fand Jazz zum Jahreswechsel 2011/2012 mit ganz kurzem Zeitabstand zweimal eine große publizistische Resonanz in langen Grundsatztexten auf der ersten Feuilleton-Seite der Süddeutschen Zeitung, also an einem Ort, den die überregionale deutsche Tagespresse stets den außerordentlich bedeutenden kulturellen und gesellschaftlichen Themen vorbehält.
Jazz als Gegenstand aktueller Kultur-Debatten: Das zeigt, wie anregend diese musikalische Kunst noch – oder wieder – ist.

Was konnte man an deutschem Jazz entdecken oder in besonders großer Qualität erleben im Jahr 2011? Da gab es ganz klare Highlights: CDs und Auftritte, bei denen ins Gewicht fiel, dass die sehr gut ausgebildeten jungen deutschen Musiker nicht nur durch ihre starke Spieltechnik und stilistische Gewandtheit glänzen, sondern dass der Produktions-Jahrgang 2011 vor allem durch Musiker mit eigenem Klang geprägt ist.

Mit der Harfe ins 21. Jahrhundert

Einige Auftritte beim JazzFest Berlin, dem als international beachtete Bühne immer noch bedeutendsten Jazzfestival Deutschlands – für das ab 2012 übrigens mit dem renommierten Publizisten Bert Noglik ein neuer künstlerischer Leiter benannt wurde -, machten das deutlich.

So zeigte sich eine früher schon stark aufgefallene Großformation an einem bisherigen Höhepunkt der Entwicklung: das „Andromeda Mega Express Orchestra“ um Komponist, Saxofonist und Klarinettist Daniel Glatzel (geboren 1984). Achtzehn Musiker in ungewöhnlicher Besetzung von Saxofon und Trompete über E-Gitarre und Keyboard bis hin zu Fagott, Harfe und Streichquintett schufen hier eine musikalische Einheit mit einer wohl nie sonst so gehörten klanglichen Vielfalt.
Ergebnis: ein schlüssiges Ganzes, noch dazu mit ungemein lockerer Virtuosität gespielt – unter anderem von so kompetenten Musikern wie Posaunist Johannes Lauer und Fagottist Sebastian Hägele.
Musik, die ganz dezidiert wie Musik des 21. Jahrhunderts klang - und nicht mehr wie Musik des 20. Jahrhunderts.

Der zweite beachtliche Berlin-Auftritt war der des Trios [em] mit Michael Wollny, Klavier, Eva Kruse, Bass, und Eric Schaefer, Schlagzeug (alle in den 1970er-Jahren geboren). Dieses schon lange atemberaubende Trio schaffte es jetzt, seine Stücke auf deren Essenz zu konzentrieren. Eine Musik voller Vehemenz, die auch dadurch überzeugte, dass keiner dieser gewandten Musiker zu glänzen versuchte – sondern jeder ordnete sich der gemeinsamen Aussage unter.
Was den Glanz von selbst brachte.

Der Trend zum Song

„Das ästhetische Ganze“: Das könnte man als Motto über manchen Auftritt und so manche CD-Produktion deutscher Ensembles oder Musiker 2011 stellen.
In Berlin machte so auch die – im Vorjahr auch schon bei Jazzbaltica aufgefallene - junge Saxofonistin Charlotte Greve (Jahrgang 1988) mit ihrer Band Lisbeth Quartett auf sich aufmerksam. Auch hier ein Miteinander auf ganz hohem Niveau: Es ging um „Songs“, also in diesem Fall instrumentale Kompositionen mit großer melodischer Prägnanz, nachzuhören auf der CD Constant Travellers, Traumton Records).

Wenn man zwei andere besonders starke CD-Veröffentlichungen dieses Jahres danebenlegt, könnte man fast von einem Trend zum innigen Song sprechen: Der Altsaxofonist Christian Weidner (geboren 1976) hat auf The Inward Song (Pirouet) Musik aufgenommen, die in lyrischen, klaren Strukturen eine enorm starke Aura entwickelt – so wie auch der Hamburger Tenorsaxofonist Sebastian Gille auf der CD Anthem (beim selben Label).
Für solche Konsequenz erntet man auch Früchte im Ausland: Ein junger Musiker aus Deutschland wurde 2011 von Allaboutjazz.com zu den herausragenden Künstlern des Jahres erkoren – der Pianist Pablo Held.

Der Jazz braucht Vermittler

Nicht nur bei Musikern und bei Labels wie ACT, enja (mit so herausragenden Gruppen wie Subtone), Traumton und anderen fanden 2011 spannende Entwicklungen statt, sondern auch auf der Ebene der Vermittlung.

Den wichtigsten Schritt machte das Jazzinstitut Darmstadt. Es veranstaltete im Herbst 2011 das 12. darmstädter jazzforum mit dem Titel jazz. schule. medien, in dem es um das Thema Vermittlung ging.
Wolfram Knauer, Leiter des Jazzinstituts, fasste einige Ergebnisse wie folgt zusammen: „Pädagogik tut not. Die Lehrerausbildung müsste auf jeden Fall stärker den Jazz berücksichtigen. Lehrer haben sowohl Interesse an praktischen Tipps – also: Wie kann ich Improvisation in den Unterricht einbauen, selbst wenn die Schüler zuvor wenig damit zu tun hatten? – als auch an theoretischen Hilfestellungen.“
Auf allen Ebenen gebe es, so Knauer, „ein Bewusstsein für die Notwendigkeit noch stärkerer Vermittlung, um den Jazz aus der elitären Ecke heraus und in die Mitte des Diskurses zu bringen“. Junge Musiker nähmen ihr Publikum ernst und wahr und versuchten, „die künstlerische Qualität ihrer Musik mit der Vermittelbarkeit zu vereinbaren“.
Bei den Redakteuren von Tageszeitungen, aber auch bei freien Mitarbeitern von Fachzeitschriften herrsche Frust – da die Szene klein sei und es immer schwieriger werde, zugleich unabhängiger Kritiker und selbst Teil der Szene zu sein.

Impuls für Jazz-Kritiker

Schon im Vorfeld hatte das Jazzinstitut einen Online-Workshop zum Thema Jazz:Kritik veranstaltet: einen Wettbewerb, bei dem junge Journalisten aus gestellten Themen auswählen und eine schriftliche Rezension einreichen konnten.

Wettbewerbe wie dieser sind gerade heute wichtig. Die Anzahl der Jazzkritiken in professionellen Medien ist verschwindend gering geworden. Die Rezensionskultur nimmt ab – dies auch in renommierten überregionalen Blättern.
In einem davon sparte sich der Rezensent in seiner langen Besprechung des JazzFests Berlin offenbar drei von fünf Festivaltagen und erwähnte nicht einmal den größten Programmschwerpunkt, nahm sich aber umso mehr Platz für Auszüge aus Interviews, die er am Rande des Festivals gemacht hatte.
In einer anderen vielbeachteten Zeitung war der Platz für eine substanzreiche Kritik auf ein Minimum für eine der hinteren Seiten zusammengeschmolzen.

Darmstadt hat mit dem Thema seines Jazzforums einen wichtigen Impuls gesetzt. Die bald darauf erschienenen großen Jazz-Reflexionen im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung geben Anlass zur Hoffnung: Vielleicht findet sie bald wieder häufiger statt - die Auseinandersetzung mit Jazzkonzerten in den deutschen Blättern.

Fazit: Jazz aus und in Deutschland war 2011 künstlerisch stark im Aufwind – und in der öffentlichen Wahrnehmung könnte es in den nächsten Jahren ebenso kommen.
Dafür braucht der Jazz aber bei den Vermittlern und Autoren die gleiche Leidenschaft und hohe Qualifikation, wie er sie bei den Musikern bereits hat. Ein so reichhaltiges Jahr wie 2011 kann sie wecken.