nach 1989
Vereinigtes Fundament trotz historischer Gegensätze – Jazz in Deutschland nach dem Mauerfall

Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren geprägt vom Kampf mit den Identitäten. Für den Jazz bedeutete das nicht nur, das deutsch-deutsche Verhältnis, sondern auch die internationalen Beziehungsgeflechte neu zu definieren. Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall hat sich die Szene langsam konsolidiert – mit Berlin als dem Zentrum und zahlreichen agilen Alternativen. 

'Klaus Doldingers Pass', Offside Festival 2008, Geldern; 'Klaus Doldingers Pass', Offside Festival 2008, Geldern; | Copyright: Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Germany License (CC-BY-SA), Foto: Nomo / Michael Hoefner Es war eine ungleichgewichtige Situation. Nach dem Mauerfall trafen zwei grundlegend verschiedene gesellschaftliche Systeme aufeinander, die zuvor ihre Musiker und Musikerinnen jeweils in über Jahrzehnte hinweg gefestigte Strukturen eingebettet hatten. Jazz in Westdeutschland hatte als kulturelles Erbstück der Alliierten ein Netzwerk aus Clubs, Konzertevents, Plattenfirmen und Förderinstitutionen entstehen lassen. Die inhaltliche Orientierung war international. Mit Ausnahme einiger spezifischer Segmente wie dem Free Jazz à la Peter Brötzmann, der experimentellen Avantgarde im Stile Albert Mangelsdorffs oder dem Fusion-Sound nach Art von Klaus Doldinger verstand man sich als Drehscheibe des weltweiten Konzertlebens – mit dem Resultat, dass viele amerikanische Künstler in Westdeutschland gastierten, jedoch wenig identifizierbarer westdeutscher Jazz außerhalb der Landesgrenzen wahrgenommen wurde.

Teil des staatlich observierten Kulturapparates

'Manfred Krug und die Jazzoptimisten', Eroeffnung Sommerfilmtage, Berlin 1964; 'Manfred Krug und die Jazzoptimisten', Eroeffnung Sommerfilmtage, Berlin 1964; | Copyright: Deutsches Bundesarchiv / Bild 183-C0726-0006-001 / Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Germany License (CC-BY-SA), Foto: J. Spremberg In der DDR ging der Jazz hingegen einen anderen Weg. Nach 1949 zunächst als antifaschistisch gefeiert, dann als imperialistisch marginalisiert, hatte sich die Musik seit den späten 1960ern ihre Nische geschaffen. Zwar wurde Free Jazz auch als Geste des Widerstandes gesehen, der sich aber nicht zwangsläufig gegen die sozialistische Gesellschaft, sondern eher gegen Konventionen als Solche wandte. Man arrangierte sich: Die politische Führung fand nur geringes Umsturzpotential; entdeckte vielmehr in den 1970ern den Eigenwert musikalischer Kreativität auch als Exportgut und Promotion. So wurden Jazzmusiker und -musikerinnen etwa in den 1980ern kaum noch als Rebellen wahrgenommen, sondern waren häufig Teil eines klar strukturierten, staatlich observierten Kulturapparates; inhaltlich und gestalterisch weitgehend frei, persönlich jedoch an die Mechanismen eines totalitären Systems gebunden.

Mit der Öffnung der Grenzen 1989 waren nun diese beiden deutschen Extreme – ein gewachsener, aber letztlich identifikationsarmer Internationalismus auf der einen und ein geduldetes, jedoch autoreferenzielles Außenseitertum auf der anderen Seite – gezwungen, sich konstruktiv anzunähern. Der Jubel ließ schnell nach und mündete beiderseits in Ernüchterung. Jazzmusiker im Osten, die oft in staatlichen Orchestern ihr Auskommen hatten, büßten nach Auflösung oder Zusammenlegung von Institutionen wie dem Rundfunk der DDR, der 1991 zu den ARD-Anstalten ORB und MDR fusioniert wurde, Festanstellungen ein. Für viele bedeutete die neue Freiheit massive Einschränkungen. Musikalisch und ästhetisch allerdings war im Prinzip alles erlaubt. Die Künstler aus Ostdeutschland sahen sich mit dem Individualismus konfrontiert, der von ihnen Selbstdisziplin, Selbstorganisation, Kommunikationsbereitschaft und Teamfähigkeit forderte. Die Musiker aus dem Westen sahen für sich in den nach Identität suchenden Neuen Bundesländern zunächst wenig Perspektiven.

Regionale Initiativen

Die 1990er-Jahre waren daher Chance und Herausforderung zugleich. Städte wie Leipzig, Dresden, aber auch München, Frankfurt, Köln und Hamburg mussten sich jazzmusikalisch neu definieren. Berlin stieg nach einer anfänglichen Phase der Verpuppung, in der sich die Szene hauptsächlich um sich selbst drehte, zum Zentrum des zeitgenössischen Jazz in Deutschland auf. Manche Städte konnten sich in einzelnen Sparten behaupten: München etwa als Sitz wichtiger Independent Labels wie Enja Records, ECM Records und ACT Music & Vision oder Köln als Soul-Jazz-Dependance. Gerade aus kleineren Orten aber zogen die Musiker nach Berlin, zumal der Wohnraum billig, die Ausbildungssituation an den Hochschulen akzeptabel und das kreative Umfeld inspirierend war. Der Trend zur Konzentration wurde allerdings durch zahlreiche regionale Initiativen relativiert. Festivals von Görlitz über Salzau und Moers bis Burghausen begeistern heute mit anhaltendem Erfolg Publikum abseits der Ballungsräume für Jazz. Ausbildungsstätten wie etwa die Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar oder die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden bilden dezentral Nachwuchs heran. Auch die föderalen Rundfunkanstalten fördern weiterhin regionale Spielformen des Jazz durch Sendungen und Mitschnitte.

So laufen inzwischen verschiedene Entwicklungen zusammen. Die Dominanz der amerikanischen Jazzkultur auf der einen und die Ästhetik des Widerstandes auf der anderen Seite sind Geschichte. Berlin gibt Impulse, ergänzt um regionale Spielformen. Mehr denn je gründen künstlerische Identitäten in den einzelnen Musikern selbst oder in kleinen Gruppierungen. Diese werden inzwischen durch Initiativen wie die Bremer Messe „jazzahead!“ und das seit 2006 stattfindende „German Jazz Meeting“ auf eine kommerziell und politisch relevante Ebene gehoben. Nach der Phase der Umorientierung und der Konsolidierung steht Jazz aus Deutschland auf solidem, verjüngtem und trotz aller historischen Gegensätze vereinigtem Fundament.