nach 1945
Jazz in Deutschland

Stilistisch hat es eine „Stunde Null“ im deutschen Jazz nicht gegeben. Die improvisierenden Musiker knüpften in den von Kriegswirren zerstörten Städten bruchlos an Spielformen wie Swing und Bebop an, die sich international entwickelt hatten.

Eine entscheidende Rolle bei der Popularisierung des Jazz in den Nachkriegsjahren spielte dabei der Rundfunk. Besonders in Hinblick auf Radio-Big-Bands schien Deutschland ein Land zu sein, in dem Milch und Honig fließen. Nirgendwo in Europa konnten sich in den 1950er-Jahren ähnlich viele Jazzorchester etablieren, wie etwa die Ensembles von Kurt Edelhagen und Erwin Lehn im Westen und Kurt Henkels im Osten. Darüber hinaus prägten Journalisten wie etwa Joachim E. Berendt (Spitzname „der Jazzpapst") mit Rundfunksendungen im Südwestfunk, Publikationen und der Gründung der Berliner Jazztage (heute JazzFest Berlin) das Jazzbild im Nachkriegsdeutschland.

Kurt Edelhagen Orchestra: Alice In Wonderland (Hörprobe: www.youtube.com)
 

„Entartung“ vs Freiheit

Der Jazz war allerdings nicht bei allen Hörern willkommen. Manch einer war noch von der Propaganda der Nazi-Jahre beeinflusst, für die Jazz „entartete Kunst“ und „Enthemmung“ gewesen war. Demgegenüber gab es in den 1950er-Jahren Jugendliche, die die schwarze Musik offensiv umarmten. Sie wollten als eigenständiger Teil der Gesellschaft mit ihren eigenen Bedürfnissen akzeptiert werden. Der Jazz wurde zu einem Vehikel ihrer Wünsche, denn die Rhythmen dieser Musik ließen etwas zu, was in der verstockten Erziehung der Elterngeneration unterdrückt worden war: die Annäherung der Geschlechter, der Körperkontakt, die Inszenierung des Selbst.

Jazz im Nachkriegs-Deutschland war der „Sound der Freiheit“, ein Symbol der Individualität, ein Zeichen für Optimismus und ein rückhaltloses Bekenntnis zu den Ideen der Moderne. Die Neugier auf das noch fremde Amerika führte dazu, dass junge Menschen in den Improvisationen der Jazzmusiker etwa von Hans Koller, Atilla Zoller oder Jutta Hipp einen „demokratischen Dialog“ entdeckten. Für sie stand Jazz für einen neu gegründeten föderalen Staat im Westen, der nach Freiheit, Recht und Brüderlichkeit strebt.
 

Von Frankfurt nach Berlin

Viele deutsche Jazzmusiker suchten nach dem Krieg zunächst das Spiel in den Clubs der US-amerikanischen und da vor allem der schwarzen Soldaten, weil Musiker dort oft viel künstlerische Freiheit hatten. Frankfurt am Main entwickelte sich darüber hinaus in den 1960er- und 1970er-Jahren zwischenzeitlich zur Hauptstadt des deutschen Jazz mit eigener Stilistik. Albert Mangelsdorff, Heinz Sauer und das Jazzensemble des Hessischen Rundfunks waren die führenden Protagonisten dieser modern avantgardistischen Jazzszene.

Albert Mangelsdorff: Now Jazz Ramwong (Hörprobe: www.youtube.com)

Auch das älteste Jazzfestival Europas, das Deutsche Jazzfestival, nahm 1953 in dieser Stadt seinen Anfang. Seit den 1980ern verlor Frankfurt jedoch seine Führungsrolle an Konkurrenten wie Köln, Hamburg, München und Berlin, nicht zuletzt deshalb, weil die Stadt keinen regelmäßigen universitären Jazzstudiengang einrichtete und der Nachwuchs abwanderte.

Jazz in Ost und West

Stacheldraht und Kalter Krieg sorgten dafür, dass sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Mauerfall 1989 zwei eigenständige deutsche Jazzszenen entwickelten. Im Westen wandten sich der Posaunist Albert Mangelsdorff und der Frankfurter Kreis seit Mitte der 1950er-Jahre zunehmend der Abstraktion und dem Experimentellen zu. Musiker wie der Saxofonist Klaus Doldinger wiederum schafften den Brückenschlag zum Soul Jazz und mit der Gruppe Passport zum Fusion Sound.

Peter Brötzmann: Warschau, 1974 (Hörprobe: www.youtube.com)

Free Jazz bedeutete für viele westdeutsche Musiker nicht nur die Loslösung von stilistischen Vorstellungen, sondern auch von den bislang dominierenden US-amerikanischen Vorbildern. Die freie Szene bekam in den 1960er-Jahren wichtige Impulse von Musikern wie dem Saxofonisten Peter Brötzmann und dem Wuppertaler Kreis oder der Berliner Szene um Querdenker wie den Pianisten Alexander von Schlippenbach, der etwa mit dem Globe Unity Orchestra eines der zentralen Free Ensembles Europas auf den Weg brachte.

In Ostdeutschland verlief die Entwicklung zum freien Spiel aufgrund politischer Rahmenbedingungen schwieriger, führte aber zu einem souveränen Umgang mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stilmittel. Der ostdeutsche Free Jazz um Musiker wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Ulrich Gumpert, Günter „Baby“ Sommer wirkte dabei integrativ für die eigene Szene. Der Jazz in der DDR, der von der Staatsführung mal antifaschistisch, dann wieder imperialistisch, schließlich seit den 1970er-Jahren als kreativer kultureller Eigenwert verstanden wurde, erschien nach außen stilistisch eklektischer als das westdeutsche Pendant.