Klassikszene 2013
Im Zeichen der Vielfalt

Wagner und Verdi waren die Helden des Musiklebens. Das „Regietheater“ der Oper ist noch nicht am Ende. Baustellen bleiben Hamburgs Elbphilharmonie und die Berliner Staatsoper. Und einige CD-Aufnahmen ließen aufmerken. Über die deutsche Klassikszene 2013 berichtet Wolfgang Schreiber.
Klassik-Musikkultur 2013 – eine Beobachtung im Zurückblicken besagt: Ereignisse in der klassischen Musikszene lassen sich weniger leicht auf einen Nenner bringen als Entwicklungen etwa in den Sparten Architektur, Bildende Künste, Film, Literatur oder Schauspiel. Das hat mit den verzweigten Strukturen, Bauformen und Materialien der Musik und Musikkultur zu tun, den historisch geformten Disziplinen und Berufsbildern, den vielfältigen Techniken der Klangerzeugung. In der klassischen Musik herrscht Heterogenität.
Musik – Disziplin des Ungleichen
Herausragende Phänomene der Verschiedenheit im Jahr 2013 machen es deutlich: Was hat die Berliner Akademie für Alte Musik, die neuerdings in München eine Konzertreihe etabliert hat, mit dem neuen Bayreuther Ring zu tun? Was Thielemanns Dresdner Staatskapelle mit den Donaueschinger Musiktagen, was das „Regietheater“ der Oper mit dem 200-jährigen Klaviervirtuosen Charles Valentin Alkan? Kaum etwas. Scheinbar einvernehmlich geben stattdessen musikalische Sternstunden und runde Geburtstage die Tonlage der Höhepunkte an. Wobei zu bedauern ist, dass die Opernriesen Wagner und Verdi andere Jubilare fast plattgemacht haben – etwa Benjamin Britten, Gesualdo da Venosa oder Frankreichs Klaviervirtuosen Charles Valentin Alkan.Richard Wagner und Giuseppe Verdi: Bayreuth, Salzburg, Hamburg
Mühelos tatsächlich beherrschten Richard Wagner und Giuseppe Verdi, die zwei 1813 geborenen Opernheroen des 19. Jahrhunderts, das internationale Musikleben.Die rund 70 Operntheater in Deutschland zollten ihnen reichlich Tribut, mit zwei herausragenden Projekten im deutschsprachigen Raum: Die Wagner-Urenkelinnen in der Chefetage der Bayreuther Festspiele beriefen den Berliner Volksbühnendirektor Frank Castorf für den neuen Ring des Nibelungen und ernteten eine irritierende, so umstrittene wie umjubelte Aufführungsserie. Castorf und sein Bühnenbildner Aleksandar Denic hoben die tragische Götter- und Heldensaga monumental, fetzig und detailbesessen auf Trash-Niveau. Der Dirigent im „mystischen Abgrund“ des Festspielhauses, der junge Russe Kirill Petrenko, „rettete“ alles mit seinem hochspannenden, leuchtenden, wunderlich transparenten Dirigat und inspirierte die Sänger zu vokalen Sternstunden.
Wagner auch in Salzburg, enttäuschend auf hohem Niveau. Die Festspiele standen im vorletzten Jahr der Intendanz Alexander Pereiras, der an die Mailänder Scala wechselt, im Zeichen des Stillstands, gar einer Abwärtsbewegung – bei unverändert zahlreichen, aber keineswegs ausgebuchten Veranstaltungen. Stefan Herheim inszenierte erzählfreudig Die Meistersinger, führte sie aber am Ende in abstruse Bilderassoziationen, Michael Volles Hans Sachs, nicht das Dirigat von Daniele Gatti, war die Aufführung wert.
Den Höhepunkt des Verdi-Jahres in Deutschland, wo der Rang und die Beliebtheit Verdis sich nur bestätigte, brachte die Hamburger Staatsoper heraus: Opernchefin und Musikdirektorin Simone Young initiierte und dirigierte einen brisanten „Verdi im Visier“, drei neu inszenierte, wenig bekannte Jugendopern Verdis, die von dem Briten David Alden auf eine schlüssige Einheitsbühne gehievt wurden. Fazit: Die brutal lodernden Kriegsopern La Battaglia di Legnano und I lombardi alla prima crociata sowie die venezianische Familientragödie I due Foscari lassen die geniale Bühnenpranke des frühen Verdi erkennen.
Die Oper praktiziert unbeirrt das „Regietheater“
Wie aktuell noch immer das seit den späten Siebzigerjahren betriebene, manchmal schon totgesagte Prinzip Regietheater an den Opernhäusern ist, bewiesen nicht nur die Aufführungen an deutschen Opernbühnen, sondern auch ein viertägiges, von Barbara Beyer geleitetes Symposium Ende Oktober an der Deutschen Oper Berlin. Unter dem Titel Die Zukunft der Oper – Oper anders denken konnte gezeigt werden, wie das Musiktheater „ohne fragwürdigen Aktualitätszwang“ in eine Dimension gelangen kann, „die Unkontrolliertes zulässt, Erwartungen enttäuscht, auf Überraschungen setzt und auf Irritation“.In Vorträgen, Podiums-debatten und Statements namhafter Musiker, Regisseure, Dramaturgen und Bühnenkünstler wurde deutlich, dass es jedenfalls in Deutschland – anders etwa als in den Operntraditionshochburgen Italien oder USA – ein Zurück hinter den Reichtum von lebendigen, differenzierten, offenen Gegenwartsbezügen des Erzählens nicht mehr geben kann. Es sind eben, neben den Musikern, die Regisseure – von Neuenfels bis Herheim, von Kupfer bis Stölzl, von Marthaler bis Sellars – , die die Aktualität, Brisanz und Überlebenskraft der Oper in den vergangenen Jahrzehnten gerettet haben, oft zum Unwillen des Publikums. Und junge Nachwuchsregisseure reizen die Grenzen zu Pop oder Performation in der Oper immer weiter aus.
Opernkunst in Berlin und München
Die Bayerische Staatsoper, Deutschlands größtes Opernhaus (einmal abgesehen vom Festspielhaus Baden-Baden), genießt auch 2013 die größte Publikumsanziehung, eine Auslastung von mehr als neunzig Prozent. Dort sorgt der neue Generalmusikdirektor Kirill Petrenko, Nachfolger Kent Naganos, für frisches Charisma, führt das Bayerische Staatsorchester im Münchner Nationaltheater zu Sternstunden so präzisen wie inspirierten Musizierens.Die Münchner Philharmoniker dagegen sind auf der Suche nach einem Nachfolger für den 83-jährigen Lorin Maazel fündig geworden, aber die Aussicht, dass sie mit dem genialisch-umtriebigen Russen Valery Gergiev ab 2015 glücklich werden, hat sich am Jahresende etwas eingetrübt: Gegen Gergiev, den Schützling Wladimir Putins, hatten sich in New York und London Proteste erhoben, nun auch in München – der Dirigent hatte sich von Putins drastischem Homosexuellengesetz nicht genügend distanziert.
Im Vergleich zur Staatsoper in München befanden sich die drei Berliner Opernhäuser in den letzten Jahren fast im Armutsbereich. Jetzt melden die Deutsche Oper im Westen der Stadt, aber auch die Komische Oper und die Staatsoper im Ausweichquartier Schillertheater, deutlich gestiegene Zahlen. Unter Intendant Barrie Kosky, der auch als Regisseur äußerst erfolgreich die Linie seines Hauses in Richtung Leichtigkeit, Revuezauber und Bilderreichtum bestimmt, verzeichnet die Komische Oper, von Kritikern zum „Opernhaus des Jahres“ 2013 gewählt, sogar einen Publikumsanstieg von rund zehn Prozent.
Die Steigerung im Kulturetat der Hauptstadt lässt der Verantwortliche, der auch als Kultursenator fungierende Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, hauptsächlich den großen Bühnen zukommen, während die „Freie Szene“, obwohl nicht arm an Attraktionen, deutlich zu kurz kommt – die Kulturszenerie etwa in der Neuköllner Oper, im Radialsystem oder in den Sophiensälen in Berlin-Mitte bietet ein breit gefächertes, qualitativ beachtliches Programm, das von der jungen Generation spontan angenommen wird.
Musikland Deutschland - nicht Zentralstaat, sondern Land der Regionen
Bei allem Schwergewicht der Metropolen Berlin oder München: Deutschland bleibt auch 2013 Musikland der Regionen. Ein so klug konzipiertes und von den Bewohnern freudig angenommenes Festival wie das Musikfest Bremen, das neu konzipierte Kammermusik-Festival in Hitzacker, wo die exzellente Geigerin Carolin Widmann die Leitung übernommen hat, das kleine, feine Festival in Usedom an der Ostsee, die einfallsreichen Landschafts-Festivals von Mecklenburg-Vorpommern oder Schleswig-Holstein, die weltweit renommierten Donaueschinger Musiktage mit ihrem Reigen der Uraufführungen, das exquisite Stuttgarter Eclat-Avantgardefest, die große RuhrTriennale in den Industrie-Kathedralen des Ruhrgebiets – es ist dies nur eine Auswahl jener Veranstaltungen, deren Events und Programme auch 2013 eine junge Vitalität und Kreativität ausstrahlten.Und da fand zum letzten Mal das Weimarer Kunstfest pèlerinages statt, das Richard Wagners Urenkelin Nike Wagner in zehn Jahren zu einer der klügsten, entdeckungsfreudigsten Schau der Künste geschmiedet hat. Sie führt ab 2015 das Bonner Beethovenfest, hat ihr Motto schon kundgetan: „Mein Beethoven ist Avantgardist und Menschenrechtler.“
Selbstbehauptungen auf Tonträgern
Mit Beethoven haben im Herbst zwei Pianisten von sich reden gemacht: Igor Levit, der 1987 in Gorki geborene, in Hannover aufgewachsene Russe, der gleich mit seiner ersten CD-Aufnahme (Sony) aufs Ganze geht: Beethovens fünf späte Klaviersonaten zeigen ihn als form-bewussten und tiefsinnigen Musiker. Der erfahrene, in London und Florenz lebende Ungar András Schiff spielte Beethovens grenzüberschreitende Diabelli-Variationen zweimal ein (ECM), als Klangexperiment: auf einem Bechstein von 1921 und auf einem Fortepiano (Brodmann) der Beethoven-Zeit.Mit neuen CD-Aufnahmen überraschten außerdem vier erstrangige deutsche Sänger: Die strenge Christine Schäfer mit Johann Sebastian Bach und Diana Damrau als Muse des „Leichten“, der Wagner-Tenor Jonas Kaufmann geschmeidig mit Verdi-Arien sowie der Ausnahme-Bariton Christian Gerhaher, der den großen Schubert- und Schumann-Liederzyklen seine Gedankentiefe schenkt.