Klassikszene 2016
Wandel der Werte

Gürzenich-Orchester Köln
Gürzenich-Orchester Köln | Foto (Ausschnitt): © Matthias Baus

Konzertsäle werden gebaut, Theater sollen fusionieren, der Prozess der Digitalisierung schreitet voran.

​Es war ein dunkles Jahr großer Abschiede, auch in der klassischen Musik. Am 5.Januar 2016 starb Pierre Boulez, Komponist und Avantgardist, der beizeiten ein zweites Leben als Allround-Dirigent begonnen hatte und als Initiator und Organisator des IRCAM musikpolitisch weitreichend Einfluss nahm. Zwei Monate später, am 5. März, starb Nikolaus Harnoncourt, Cellist und Dirigent, Gründungsvater der historisch informierten Aufführungspraxis. Beide, Leitfiguren des zwanzigsten Jahrhunderts, hatten die Musikerfahrung und das Musikdenken mehrerer Generationen geprägt. Harnoncourt führte die sogenannte Alte-Musik-Bewegung an, Boulez die zeitgenössische Musik. Eigentlich waren die Fronten der beiden konträren, entschieden musikalischen Spezialinteressen zugewandten Lager schon seit etlichen Jahren in Auflösung. Doch wie tief dieser Prozess gediehen ist, wie stark die Veränderungen eingreifen in das aktuelle Musikleben und wie manifest der Wandel der Wertvorstellungen in Theorie und Praxis der Musik sich auswirkt, das wurde erst 2016 deutlich, mit dem Verlust dieser beiden großen Mentoren.

Paradigmenwechsel

So ist es in vieler Hinsicht gerechtfertigt, nicht nur von einem Generations-, sondern von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Begriffe wie „musikalischer Fortschritt“ oder „Experiment“ sind nunmehr negativ konnotiert in den Ohren der jungen Intuitiven und Improvisateure, die sich, wie die sogenannten Echtzeitmusiker, von der gealterten Avantgarde entschieden abgrenzen. Was wiederum das Klangforum Wien dazu bewogen hat, provozierend „Festliche Tage Alter Musik“ auszurufen, wobei mit „alt“ Komponisten wie Luigi Nono, Olivier Messiaen, Henri Pousseur et.al. gemeint sind. Dass andererseits Parameter der Klangrede, der Phrasierung und der Farbvaleurs, die von der historisch informierten Aufführungspraxis entwickelt wurden, inzwischen zur lingua franca auch der traditionellen großen Symphonieorchester gehören, ist schon eine Selbstverständlichkeit. In Köln legte 2016 der neue Gürzenich-Kapellmeister Francois-Xavier Roth eine fulminante erste Spielzeit hin, das Beste aus beiden Lagern vereinend: Er lenkte zuletzt die Geschicke des aufgelösten SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, letztes öffentlich-rechtliches „Uraufführungs-Orchester“; und parallel dazu ist Roth immer noch Chefdirigent seines mit historischen Instrumenten musizierenden Ensembles Les Siècles.

Frauenpower

Auch auf anderen Baustellen hat sich die Welt der klassischen Musik 2016 verändert. Alte Fronten und Gewohnheiten, scheinbare Gewissheiten gingen verloren, auch gut gepflegte Vorurteile, wie etwa dieses: Taktschlagen sei grundsätzlich Männersache und die bekannte Handvoll weiblicher Dirigenten gut beraten, wenn sie betont männlich auftreten. Als am 5. Februar 2016 bekannt wurde, dass Mirga Gračynitē-Tyla, 29, als Nachfolgerin von Andris Nelsons zur Chefdirigentin des City of Birmingham Orchestra berufen worden sei, setzten Konzertveranstalter und Festivals plötzlich das alte Lila-Latzhosen-Thema „Frau und Musik“ erneut auf die Tagesordnung – darunter die Luzerner Festwochen und die Berliner Philharmoniker. Im Juni 2016 wurde in Erfurt der Vertrag von Generalmusikdirektorin Joanna Mallwitz, 29, verlängert. Die Dirigentin Alondra de la Parra, 36, designierte Chefdirigentin des Queensland Symphony Orchestra, übernahm im Sommer 2016 die Arbeitsphase des Bundesjugendorchesters.  

Downloading

Ein weiteres Ereignis, das so bald kaum einer für möglich gehalten hätte: Anfang November 2016 lenkte die Online-Plattform Youtube in ihrem Rechtsstreit mit der deutschen GEMA ein und erklärte sich bereit, „freiwillige Abgaben“ zu zahlen, auch rückwirkend. Damit taucht nicht nur erstmals der künstlerische Urheber als Leistungsträger im Netz auf. Auch das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Musik tritt damit in eine neue Ära. Ende 2016 nähert sich die Wachstumsrate von Streamingdiensten und Downloadshops in Deutschland der Fünfzig-Prozent-Marke. Tonträger wie die CD sind angezählt. Wer unter dreißig ist, streamt. Zwar betrifft dies, laut Statistik des Bundesverbands Musikindustrie in erster Linie die Popmusik. Doch die Tendenz der klassischen Musikhörer geht unaufhaltsam in dieselbe Richtung. 

Konzertsäle

Und, Überraschung: Die Hamburger Elbphilharmonie ist fertig! Nach 16 Jahren Bauzeit fand am 31. Oktober 2016 die Übergabe des Neubaus an den Bauherrn, die Stadt Hamburg statt. Kostenpunkt: 866 Millionen Euro. Am 4.November wurde die Elbphilharmonie-Plaza, als allgemein zugängliche Aussichtsterrasse in 37 Meter Höhe, der Öffentlichkeit übergeben. Öffentlich auch die hinkünftig empfohlenen Verkehrsmittel: Für knapp ein Viertel der 2100 Konzertbesucher gibt es Plätze (422) in der, im Unterschied zum Rest des Projekts, zu sparsam geplanten Tiefgarage. Kurz zuvor hatte die Stadt Bochum gezeigt, wie es noch etwas öffentlicher geht. Ende Oktober 2016 wurde dort, fußläufig zu Rathaus und Hauptbahnhof, das „Anneliese Brost Musikforum Ruhr“ eingeweiht, als neue Heimat der Bochumer Symphoniker entworfen von den Architekten Bez & Kock. Herzstück: ein Konzertsaal mit 960 Plätzen sowie ein Kammermusiksaal. Vorgelagert als Konzertfoyer ist die säkularisierte, neogotische Marienkirche. Bauzeit: 4 Jahre, Baukosten: 41,3 Millionen Euro. Auch in Dresden hat der Kartenvorverkauf für den neuen Konzertsaal im Kulturpalast (1800 Plätze) im Oktober 2016 begonnen, auch in Berlin ist ein weiterer Konzertsaal pünktlich im Zeitrahmen fertig geworden: der Pierre-Boulez-Saal der Barenboim-Said-Akademie, in Mitte. Entworfen von Frank Gehry, 622 Plätze. Pikantes Detail: diese Musiker-Akademie ist als private Hochschule dem Berliner Hochschulgesetz unterstellt, doch Bau wie auch Betrieb werden aus dem Etat von Staatskulturministerin Grütters mitfinanziert.

Kostenpunkte

Diese 2016 kulminierende Blüte von Konzertsaal-Neubauten widerlegt, was von etlichen Kommunalpolitikern immer noch als Gewissheit betrachtet wird: dass klassische Musik, so lautet das Argument für Kürzungen, ein Luxusgut sei für hauptsächlich ältere, betuchte Bürger. In Mecklenburg-Vorpommern wurde auch 2016 weiter an der Absenkung der kulturellen Grundversorgung geschraubt und die Theaterfusion vorangetrieben. Im November kürzte der rot-grüne Dresdner Stadtrat den Etat der Dresdner Philharmonie um 250.000 Euro, die für die Bespielung des neuen Saals schon eingestellt waren (und nahm das im Dezember wieder zurück). Auch sonst bewies die Kulturpolitik in Dresden keine glückliche Hand. Am 27. August 2016 bestätigte das Oberlandesgericht das Urteil aus erster Instanz, wonach Serge Dorny, Intendant der Semperoper, 2014 zu Unrecht fristlos gekündigt worden sei. Er hat nun Anspruch auf Gehalt, Entschädigung und Abfindung.

Preise, Personalien

Der Ernst-von-Siemens-Musikpreis 2016 ging an den dänischen Komponist Per Nørgård, der Heidelberger Musikpreis 2016 an den Münchner Bariton Christian Gerhaher, die Nachtigall 2016 des Preises der deutschen Schallplattenkritik konnte nur noch posthum verliehen werden, sie ging an Nikolaus Harnoncourt. Die besten Personalentscheidungen des Jahres 2016: Andrea Zietzschmann wird Intendantin der Berliner Philharmoniker. Sie verlässt dafür das NDR-Orchester, das sich seit Februar 2016 neuerdings Elbphilharmonie-Orchester nennt, obgleich es immer noch ein Klangkörper des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist und den neuen Saal mieten muss, wie andere Orchester auch. Jakub Hrůsa trat am 20.September sein Amt an als Chefdirigent der Bamberger Symphoniker. Cornelius Meister wurde zum neuen Generalmusikdirektor der Oper Stuttgart ernannt, neben Viktor Schoner als Intendant. Die umstrittensten Personalentscheidungen: Sasha Waltz soll das Berliner Staatsballett übernehmen, Bogdan Roščic als neuer Intendant die Wiener Staatsoper, Jaap van Zweden die New Yorker Philharmoniker; und Lionel Bringuier verlässt das Tonhalle Orchester nach nur vier Spielzeiten. Von den vier großen „Gedenkkomponisten“ Max Reger, Erik Satie, Steve Reich und Ferruccio Busoni ist leider nur zu berichten, dass sie 2016, wie sonst auch, extrem unterrepräsentiert waren im Konzertbetrieb und nur schwache Versuche unternommen wurden, die schiefen Rezeptionsmuster vom Maßlosen, Komiker, Trommler und Epigonen zu durchbrechen.

Was im Gedächtnis bleibt

Der allzu frühe Tod des großen Heldentenors Johan Botha am 8.September. Die allzu kurzfristige Absage von „Parsifal“-Dirigent Andris Nelsons in Bayreuth am 30.Juni. Der Triumph der Einspringer und Bayreuth-Debutanten Hartmut Haenchen (Parsifal) und Marek Janowski (Ring) daselbst. Das erwartbar farblos geratene erste Konzert des fusionierten SWR-Symphonieorchester am 31.Oktober in Stuttgart. Und last, but not least: Der weltweit akklamierte, weil verspätete Auftritt von Angela Gheorgiu am 16.April in der Wiener Staatsoper, im dritten Akt der „Tosca“, was ihr wartender Partner Jonas Kaufmann als Cavaradossi zur Freude von mehr als 80.000 Youtube-Guckern überbrückte mit der improvisierten Kantilene: „Ahhh, non abbiam‘ il soprano!“