Klassikszene 2010
Krise vertagt

Im Jahr 2010 wurden die drei Jubilare Schumann, Chopin und Mahler ausgiebig gefeiert. Getrübt wurde die Stimmung durch die Folgen der Wirtschaftskrise. Auch sorgte die Altersstruktur der Konzertbesucher für Diskussionen.
Dennoch: die klassische Musik ist nach wie vor höchst lebendig. Der Umgang mit neuen Medien ist dafür nur ein Hinweis.

Es war das Jahr Robert Schumanns (200. Geburtstag), Frédédric Chopins (200. Geburtstag) und Gustav Mahlers (150. Geburtstag).
Abonnementkonzerte und Festivals, CD- und Buch-Neuerscheinungen, Kongresse und Ausstellungen, Radio- und Fernsehproduktionen, ja sogar das Kino ("Mahler auf der Couch"): Alle reihten sich ein in den Reigen der Gratulanten.
Kaum etwas strukturiert das Musikleben stärker als solche Jubiläen – nicht zuletzt deshalb, weil sie sich so gut langfristig planen lassen.

Was man an den Aktivitäten zum Chopin-Schumann-Mahler-Jahr ablesen konnte, war denn auch nicht weiter überraschend.

Zum Beispiel, dass Chopin populärer ist als Schumann.
Oder dass Schumann die lebenden Komponisten stärker zur produktiven Auseinandersetzung reizt.
Und schließlich, dass Gustav Mahlers Symphonien mittlerweile eine Schlüsselstellung im Kanon der Orchestermusik einnehmen, die nur mit derjenigen Ludwig van Beethovens vergleichbar ist.

Ehrungen, Debüts und Neuentdeckungen

Alle anderen Namen des Jahres 2010 stehen ein wenig im Schatten dieser drei Jubiläen.

Der Dirigent und Komponist Michael Gielen bekam den Musikpreis der Ernst-von-Siemens-Stiftung, eine der wichtigsten Auszeichnungen der Musikwelt. Das war überfällig.

Pierre Boulez und Dietrich Fischer-Dieskau feierten ihren 85. Geburtstag und wurden verdientermaßen gefeiert. Wobei Boulez mit zwei wunderschönen CDs nicht nur sich selbst, sondern auch sein Publikum beschenkte: Mahlers Wunderhorn-Lieder mit Christian Gerhaher und Magdalena Kozena sowie Karol Szymanowskys Hauptwerke, aufgenommen mit den Wiener Philharmonikern.

Bei den Berliner Philharmonikern gaben drei herausragende junge Dirigenten ihr Debut: Andriss Nelsons, Yannick Nézet-Séguin und Tomás Netopil wurden dort wohl nicht zum letzten Mal eingeladen.

Nennen wir gleich auch noch zwei junge Instrumentalisten, deren CD-Debuts aufhorchen ließen: Die norwegische, seit mehreren Jahren in München lebende Geigerin Vilde Frang und der aus Augsburg stammende Cellist Maximilian Hornung.

Unter den vielen schönen CDs des Jahres ragen die beiden Beethoven-Platten des Artemis-Quartetts heraus: Hier entsteht eine Gesamteinspielung, die viele Jahre Referenz-Charakter haben wird.

Dirigentenwechsel in München

In München begann 2010 als Jahr des Dirigenten-Missvergnügens.
Christian Thielemann hatte bereits im Sommer 2009 seinen Wechsel nach Dresden bekannt gegeben – nun zauberten die Münchner Philharmoniker und Kulturreferent Hans-Georg Küppers einen alten Bekannten aus dem Hut: Lorin Maazel, einst Chefdirigent beim Bayerischen Rundfunk, kommt von 2012 an für eine dreijährige Übergangszeit, in der ein jüngerer Nachfolger gefunden werden soll.

Verdruss auch an der Bayerischen Staatsoper: Im Sommer wurde bekannt, dass der Vertrag von Generalmusikdirektor Kent Nagano nicht verlängert wird. Staatsintendant Nikolaus Bachler konnte jedoch mit Kyrill Petrenko einen vielversprechenden Nachfolger präsentieren, der 2013 antreten wird.

Es verstarben der Dirigent Charles Mackerras (von dem noch einmal eine Reihe großartiger Aufnahmen erschien), der langjährige Festspiel-Prinzipal Wolfgang Wagner und der Komponist Henryk Gorecki.

Untergang der klassischen Musik wird vertagt

Dass es ein Jahr der Krise werden würde, war die allgemeine Erwartung, als es begann.
Wer mit Kultur beschäftigt war, ging fest davon aus, dass die Folgen der Finanzkrise im Lauf des Jahres 2010 die öffentlichen Haushalte mit Heftigkeit treffen würden. Weitere schmerzhafte Einschnitte in die Budgets von Orchestern, Konzerthäusern und Musikschulen schienen unvermeidlich. In einzelnen Ländern und Kommunen ist es tatsächlich so gekommen. Vor allem in Ostdeutschland wurde (und wird) über die nächsten Orchester-Fusionen nachgedacht.

Doch auch westdeutsche Städte sind betroffen. In Bochum beispielsweise, wo die Stadt ihren Symphonikern gern einen Saal gebaut hätte und die entsprechenden Mittel bereits zusammen gebracht hatte, mauerte die Landesregierung. Zur gleichen Zeit beging man das Kulturhauptstadtjahr im Ruhrgebiet...

Nicht weit entfernt davon, in Bonn, wurden die Pläne für ein Festspielhaus ebenfalls auf Eis gelegt. Und in Berlin stellte der Intendant des Deutschlandfunks Willy Steul die Finanzierung des Deutschen Symphonieorchesters und des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters in Frage – immerhin zwei der renommiertesten Klangkörper der Republik.
Die Zahl der Orchesterplanstellen in Deutschland, die 1992 noch bei über 12.000 gelegen hatte und seither kontinuierlich sinkt, lag Anfang 2010 erstmals unter 10.000.

Dennoch – der fast fatalistisch erwartete allgemeine Kahlschlag ist wider alle Erwartungen ausgeblieben.
Die Kulturausgaben sind um immerhin 4,1 Prozent gegenüber 2009 gestiegen, vermeldet das Statistische Bundesamt. Etwa ein Drittel der rund 10 Milliarden Euro, die Gemeinden, Länder und Bund im Jahr 2010 für Kultur ausgaben, ging in die Musikförderung. Diese abstrakten Zahlen sagen noch recht wenig über den gesellschaftlichen Stellenwert der klassischen Musik in Deutschland aus, sie rücken jedoch ein wenig die Maßstäbe zurecht.

Alterndes Publikum, intensive Jugendarbeit

Wer sich anhand der öffentlichen Debatte ein Bild über das Musikleben im Jahr 2010 machen will, stößt unvermeidlich auf apokalyptische Schlagworte wie "dramatische Einbrüche", "Krise", "Überalterung".
Im März erregte eine Studie der Zeppelin-Universität Friedrichshaften Aufsehen. "Deutschlands Konzert- und Opernhäusern droht schon in naher Zukunft ein dramatischer Niedergang", konstatierte darin der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle. Zwar sei der Konzertbesuch stabil, teilweise sogar leicht steigend. Doch das mittlere Alter des Publikums liege zwischen 55 und 60 Jahren.

"Dabei ist das Durchschnittsalter des Klassik-Publikums in den vergangenen 20 Jahren dreimal so schnell angestiegen (um rund 11 Jahre) wie das Durchschnittsalter der Bevölkerung (rund 3,4 Jahre). Das Klassik-Publikum wird in den nächsten 30 Jahren um mehr als ein Drittel zurückgehen – es stirbt schlichtweg aus."

Wenn die etablierten Institutionen des Musiklebens nicht jüngere Publikumsschichten erschlössen, dann sei ihre im internationalen Vergleich luxuriöse Förderung durch den Staat nicht mehr zu legitimieren.

Kein Wunder, dass sich schnell Widerspruch regte. Klaus Zehelein als Präsident des Deutschen Bühnenvereins nannte Tröndles wenig erfreuliche Prognosen spekulativ. Zudem hätten die Orchester die Herausforderung längst erkannt, ihr Werben um jüngere Zuhörer sei bereits sehr erfolgreich.

Tatsächlich stieg die Zahl der musikpädagogischen Veranstaltungen der deutschen Kulturorchester (damit sind alle öffentlich finanzierten Orchester gemeint) in der Saison 2009/2010 weiter deutlich an. Gegenüber der Saison 2003/2004 hat sie sich knapp verdoppelt. Insgesamt 5902 Sinfoniekonzerte zählt die Statistik des Deutschen Musikinformationszentrums im Jahr 2010 einschließlich der Konzerte auf Auslandstourneen. Dem stehen nicht weniger als 4069 musikpädagogische Veranstaltungen gegenüber (Workshops, Kinder- und Jugendkonzerte).

Plattenindustrie zwischen Pop- und Hochkultur

Auch die von illegalen Downloads gebeutelte Plattenindustrie gab im Herbst 2010 aufmunternde Zahlen bekannt: Klassische Musik stehe "bei den Konsumenten weiter hoch im Kurs".

Gegenüber dem Vorjahr sei eine Steigerung um 3 Prozent zu verzeichnen. Klassik werde immer stärker Teil einer neuen Popularkultur. Künstler wie David Garrett, Lang Lang oder Jonas Kaufmann verkörperten "eine neue und junge Generation von Klassik-Künstlern und machen das Genre auch für ein jüngeres Publikum attraktiv."

Man mag allerdings darüber streiten, ob David Garretts Album "Rock Symphonies", das im September 2010 die Klassik-Charts eroberte, klassische Musik ist.

Vom Standpunkt der traditionellen Hochkultur aus betrachtet, ist die Tatsache, dass der Erfolg eines solchen Albums ganz selbstverständlich der Kategorie "Klassik" zugeordnet wird, nicht unbedingt ein Zeichen der Hoffnung, sondern womöglich ein weiteres Indiz für den nahen Untergang.

Dass der bildungsbürgerliche Kulturbegriff auch im Jahr 2010 weiter erodiert ist, ist nicht zu übersehen. Die Krise des schulischen Musikunterrichts, der vor allem an den Real- und Hauptschulen immer öfter fachfremd erteilt wird (wenn überhaupt), ist dabei nur ein Faktor.

Die Erosion tradierter Vermittlungsformen klassischer Musik zeigt sich auch an der Veröffentlichungspolitik der Major-Labels. In den Vermarktungsstrategien von Universal (Deutsche Grammophon) und Sony werden die Instanzen Werk und Komponist, die im bildungsbürgerlichen Umgang mit Musik stets im Zentrum standen, Schritt für Schritt in den Hintergrund gedrängt.

Alle Aufmerksamkeit wird nach dem Modell der Popmusik auf den Interpreten gelenkt. Tourneen sind in diesem Umfeld ganz selbstverständlich Promotion-Touren für die jeweils aktuelle CD.

Während früher die Interpretation eines Werkes in einer Reihe von Konzerten reifen konnte, bevor ein Künstler mit der Einspielung die Summe zog, muss heute oftmals die CD zu Beginn einer Konzertreise bereits vorliegen. Und das Programm wird vor allem unter dem Gesichtspunkt ausgesucht, ob die Werke etwas über den Künstler aussagen, ob sie zu seinem Image passen.

Absolut folgerichtig ist es in diesem Kontext, wenn bei dem im Dezember auf CD erschienen Soundtrack zum Videospiel Gran Tourismo 5 (ein Auto-Renn-Simulator) das Repertoire vollends Nebensache ist (Air, Minutenwalzer, Entertainer): Die Überraschung liegt nicht darin, was gespielt wird, sondern dass es sich überhaupt um Werke klassischer Komponisten handelt, eingespielt von Lang Lang.

Diese neue Verbindung von tradierter Hochkultur und aktueller digitaler Massenkultur gibt gewiss Anlass zu kulturkritischem Stirnrunzeln, sie birgt aber natürlich auch Chancen. Das WDR-Rundfunkorchester veranstaltet schon seit 2008 eine Reihe von Konzerten mit den Soundtracks zu Videospielen, arrangiert für Symphonieorchester – und füllt die Kölner Philharmonie mit einem begeisterten jungen Publikum, das sonst selten bis nie in klassische Konzerte geht.

Digitale Medien und klassische Musik

Die Medienrevolution hat also längst auch die klassische Musik und ihre Vermittlung grundlegend zu verändern begonnen.
Die Berliner Philharmoniker haben daraus mit der "Digital Concert Hall" schon im Jahr 2009 die Konsequenz gezogen.

Die große Chance klassischer Musik in einer digitalisierten Welt liegt wohl jedoch weniger in kostenpflichtigen Websites wie dieser als in den sogenannten niederschwelligen Angeboten. Diese kommen gerade auch vermeintlich schwer Vermittelbarem zugute.

Man muss sich nur die verblüffenden Abrufzahlen anschauen, die Werke von Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis bei Youtube erreichen. "Hubschrauber-Quartett": ca. 550.000 Aufrufe, "Gesang der Jünglinge": ca. 250.000, "Metastasis": ca. 270.000.

Wer sich als Klassik-Liebhaber durch Youtube klickt, dem wird schnell klar, dass das "Wohltemperierte Internet", von dem der amerikanische Journalist Alex Ross 2007 prophetisch im "New Yorker" schrieb, mittlerweile Wirklichkeit geworden ist.

Das Internet, so Ross' optimistische These, töte zwar die CD, es helfe jedoch der klassischen Musik. Deren Untergang jedenfalls wurde 2010 zwar zunächst heiß diskutiert, dann aber bis auf weiteres verschoben.