NEUE MUSIK 2013
Hoch ambitioniert in Regionen und Zentren

Harry Partchs „Delusion of the Fury“ als Deutsche Erstaufführung in der Jahrhunderthalle in Bochum
Harry Partchs „Delusion of the Fury“ als Deutsche Erstaufführung in der Jahrhunderthalle in Bochum | © Ruhrtriennale, Foto: Wonge Bergmann, 2013

Das zeitgenössische Musikschaffen in Deutschland präsentierte sich 2013 in großer Vielgestalt und mit viel Engagement. Frank Kämpfer gibt einen Überblick über spektakuläre Projekte, namhafte Festivals, bemerkenswerte Uraufführungen in deutschen Stadttheatern sowie über wichtige Förder- und Vermittlungsprojekte, Personen und Jubiläen.

„Ein Ereignis von lichter Heiterkeit“, nicht weit von Led Zeppelin und The Doors – so assoziierte die Süddeutsche Zeitung im Sommer die Wiederentdeckung von Harry Partchs Delusion oft the Fury durch die Kölner MusikFabrik. Mit Partch (1901–1974) rückte eine Randfigur der US-Avantgarde ins Zentrum der Ruhrtriennale 2013. In den 1930er-Jahren entwickelte der amerikanische Komponist eine 43-tönige Skala auf der Basis der reinen Intonation und schuf eine Vielzahl ungewöhnlicher Instrumente dafür. Partchs 1966 komponiertes Musiktheater verlangt deren Bühnenpräsenz; Thomas Meixner übernahm den Nachbau, die Mitglieder der MusikFabrik erlernten deren Spiel mit großem Vergnügen. Inhaltlich kombiniert das von Heiner Goebbels inszenierte Opus japanisches No-Theater und eine äthiopische Fabel.

Festivals und Reihen mit Hörfunk

Auch 2013 setzten die vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk getragenen Spezialfestivals besondere Akzente und unterstrichen die international herausgehobene Relevanz und Position der Neuen Musik in und aus Deutschland. Nach Ausflügen 2012 in die multimediale Welt der heute jungen Komponistengeneration richteten die Donaueschinger Musiktage im Oktober 2013 den Fokus auf partiturnotierte Groß- und Langformen. Bernhard Lang, Walter Zimmermann, Raphaël Cendo, Enno Poppe, George Aperghis und andere wurden vom SWR mit neuen Kompositionen für Orchester oder große Ensemblebesetzung beauftragt.

Die vom Kulturradio WDR 3 kuratierten Wittener Tage für neue Kammermusik Ende April eröffneten in mehr als 20 Ur- und Erstaufführungen einen mitteleuropäischen Horizont gegenwärtigen Komponierens. Im Zentrum standen Werke von Dieter Ammann, Bernhard Lang, George Aperghis, Alberto Posadas, Peter Ablinger und Fabien Levy. Im Rahmenprogramm: Akustische Erkundungen im Stadtgebiet (Wittendrin) und die Verleihung des Mauricio-Kagel-Musikpreises 2013 an Michel van der Aa.

Die Reihe musica viva des Bayerischen Rundfunks in München präsentierte 2013 Auftragskompositionen für Soloinstrument mit Orchester von Michael Pelzel, Matthias Spahlinger, Salvatore Sciarrinio, Gerald Barry, Philippe Manoury und Jorge E. López. Höhepunkt der Konzertreihe war die Ende Juni auf mehrere Tage und Orte verteilte konzertante Gesamtaufführung von Karlheinz Stockhausens Samstag aus dem LICHT–Zyklus unter anderem mit Kathinka Pasveer, der MusikFabrik und Klangkörpern des Bayerischen Rundfunks unter Ingo Metzmacher.

Das von Rundfunk Berlin-Brandenburg und Deutschlandradio Kultur in Berlin realisierte Ultraschall-Festival hatte Ende Januar deutsch-französische Beziehungen als Schwerpunkt gewählt. Werke von Pascal Dusapin, Franck Bedrossian, Philippe Hurel und Fabien Lévy standen dafür ein. Das Stuttgarter Eclat-Festival verabschiedete Anfang Februar seinen langjährigen Leiter Hans-Peter Jahn. Zu erleben waren unter anderem neue Arbeiten mit theatralem Potenzial oder Kontext von Markus Hechtle, Jörg Widmann, Carola Bauckholt und Thomas Witzmann.

Das Forum neuer Musik des Deutschlandfunks thematisierte Mitte April Postkolonialität und Globalisierung und bot unter anderem Kompositionen von Alan Hilario, Andile Khumalo, Wisam Gibran, Adriana Hölszky und Jorge Horst. Mit dem thematischen Doppel Elektronik / Iannis Xenakis profilierte sich Anfang Mai das vom WDR mitgetragene Festival Acht Brücken – Musik für Köln. Im Mittelpunkt der vom Ensemble Modern und dem Hessischen Rundfunk in Frankfurt veranstalteten Biennale cresc. stand Ende November Musik von Bernd Alois Zimmermann.

Besondere Initiativen in den Regionen

Eine wichtige Basis für die Neue Musik in Deutschland ist deren wachsende Verankerung in den Regionen, wo sie ihrerseits nachhaltig ihren internationalen Charakter entfaltet. Erfreulicherweise haben sich in letzter Zeit nun auch in nördlichen Bundesländern Podien Neuer Musik etabliert: die Kieler Chiffren, die Rostocker Brücken und Provinzlärm im Ostseebad Eckernförde. Besonders bemerkenswert gestaltete sich 2013 das inzwischen vierte Provinzlärm-Festival: Nach den vorangegangenen Länderschwerpunkten Island, Lettland und Finnland richtete das es den Fokus auf Polen und hatte das Warschauer Ensemble Kwartludium zu Gast.

Auch im regionalen Konzertbetrieb entwickeln sich besondere Handschriften: Seit fünf Jahren initiiert das Philharmonische Orchester Cottbus neue Orchestermusik. Generalmusikdirektor Evan Christ entwickelte das bundesweit innovative Konzept, in jedem Sinfonie-Konzert ein kurzes Werk uraufzuführen. Für 2013 ergingen Kompositionsaufträge an Nina Šenk, Philipe Manoury, Bernd Franke, Malika Kishino und Philipp Maintz und weitere Komponisten. Die wichtigste Initiative Neuer Musik im benachbarten Bundesland Sachsen-Anhalt ist das Impuls-Festival, das sich 2013 über sieben Städte erstreckte.

Vielfalt zeitgenössischer Oper

Ungeachtet verbreiteter Sparzwänge kamen auch im Kalenderjahr 2013 an vielen Stadt- und Staatstheatern neue Bühnenwerke heraus. Der bundesweite Trend ging weniger zu avancierten Klangsprachen als vielmehr zu politisch-sozial relevanten Sujets, die auch einem konventionellen Opernpublikum vermittelbar sind. Im Theater Kiel beispielsweise wurde Cristóbal Halffters Oper Schachnovelle nach Stefan Zweig uraufgeführt. Der spanische Komponist problematisiert darin erneut das Überleben des Geistig-Kulturellen unter den Bedingungen von Gewalt und Diktatur.

Das Theater Osnabrück feierte die ambitionierte Ensembleproduktion Das große Heft. Komponist Sidney Corbetts thematisiert in seinem neuen Musiktheater nach Agota Kristof den Zerfall des Humanen in Zeiten des Kriegs. Im Staatstheater Meiningen wurde die Kammeroper Anya 17 von Adam Gorb uraufgeführt, in der der britische Komponist das Thema Zwangsprostitution verarbeitete.

Als Beitrag zum Wagner-Jubiläum brachte die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf Helmut Oehrings neues Bühnenstück SehnSuchtMeer heraus – eine Auseinandersetzung mit Motiven aus Der fliegende Holländer.

Das ruhelose, seine Identität suchende Individuum stand im Mittelpunkt eines dreiteiligen Orlando–Projekts im Theater Bielefeld. Die Szenarien wurden von Vito Zuraj, Martin Grütter und Michael Langemann komponiert. Den alten Wunsch des Menschen nach einem zweiten Versuch thematisiert Ludger Vollmers von Tom Tykwers Film inspirierte Oper Lola rennt, die das Theater Regensburg beauftragte.

Vermittlungsarbeit und Nachwuchsförderung

Ein nicht zu unterschätzender Aspekt für das Entstehen, Interpretieren und Veranstalten Neuer Musik in Deutschland ist die Stabilität und Kontinuität der Ensembles. Vorherrschende Themen in der Ensemble-Landschaft waren 2013 deshalb die Absicherung der künstlerischen und sozialen Existenz und die Notwendigkeit der Weitergabe eigener Erfahrungen an den musikalischen Nachwuchs.

Anknüpfend an ihre Erfahrungen bei der bundesweiten Fördermaßnahme Netzwerk Neue Musik (2008–2011) haben sich Spezialensembles aus sechs deutschen Städten zum Projekt Ensemble-Gesellschaft zusammengefunden. Die Formationen Ensemble Resonanz (Hamburg), Ensemble Recherche (Freiburg), El Perro Andaluz (Dresden), Ascolta (Stuttgart), Ensemble Mosaik (Berlin) und Das Neue Ensemble (Hannover) bezwecken in mehreren Projektphasen und verschiedenen Städten eine bewusstere Wahrnehmung und Reflektion zeitgenössischer Ensemblekultur als Lebensprojekte der darin Beteiligten.

Ambitionierte Nachwuchsmusiker der Landesjugendensembles für Neue Musik aus Niedersachsen, Thüringen und Rheinland-Pfalz/Saarland haben im Rahmen der Rheinsberger Pfingstwerkstatt erstmals gemeinsam als Ensemble der Länder agiert. Um Vernetzungs-Erfahrungen beim zeitgenössisch interessierten Musikernachwuchs weiter auszuprägen, sind für 2014 weitere Aktivitäten anvisiert: von Konzerten mit weiteren neuen Landes-Formationen bis hin zur möglichen Gründung eines Bundes-Jugendensembles.

Die vom Deutschen Musikrat getragene deutsch-polnische Nachwuchsformation European Workshop of Contemporary Music beging ihr zehnjähriges Bestehen mit einem Konzert beim Warschauer Herbst. Die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) feierte ebenfalls ihr zehnjähriges Bestehen mit CD- und Buchpublikation sowie Festivalauftritten in Köln, Schwaz und Frankfurt am Main und weiteren Städten.

Jubiläen, Preise, Personen

Neben den genannten Ereignissen prägten auch Jubiläen, Persönlichkeiten und Preise das Jahr 2013. Die 100. Geburtstage von Benjamin Britten und Witold Lutosławski und die 50. Todestage von Paul Hindemith und Karl Amadeus Hartmann fanden in Konzertreihen, Theaterspielplänen und Hörfunkprogrammen, aber auch in lokalen Initiativen zahl- und ideenreichen Niederschlag. Die Galerie Herrenhausen in Hannover veranstaltete beispielweise eine Lange Nacht der Musik Lutosławskis als Crowdfunding-Projekt. Eine Kölner Konzertkirche vereinte Amateure und Profis bei mehrtägigen Britten-Days. Die Bayerische Kammerphilharmonie engagierte sich in einem Festkonzert für die Uraufführung von Hartmanns frühem Symphonie-Divertissement. Die Musikhochschulen in Stuttgart, Frankfurt und Hannover widmeten Paul Hindemith mehrtägige Veranstaltungen.

Eine CD-Edition, eine Biografie, ein Dokumentarfilm sowie Gesprächskonzerte unter anderem in Berlin, Göttingen, München, Wolfsburg und Chemnitz würdigten die Komponistin Ursula Mamlok anlässlich ihres 90. Geburtstags. Mamlok war 1939 wegen ihrer jüdischen Herkunft emigriert und hatte sechseinhalb Jahrzehnte in New York verbracht. 2006 war die Komponistin nach Deutschland zurückgekehrt. In Deutschland engagieren sich verschiedene Initiativen seit Längerem dafür, während des Nationalsozialismus verfolgte, vertriebene und vergessene Komponisten und Musiker zu rehabilitieren.

Der Journalist und Produzent Rolf W. Stoll wurde für die Profilierung von WERGO zum wichtigsten deutschen CD-Label Neuer Musik mit einem Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet.

Im internationalen Vergleich verfügt Deutschland über eine vielgestaltige und ambitionierte Szene kleiner Speziallabels für Avantgardemusik.

70-jährig verstarb in Berlin der Komponist Friedrich Schenker. Mit Schenker verbinden sich avancierte Musiktheaterwerke und das Wirken der Gruppe Neue Musik Hanns Eisler Leipzig. Er gehörte in der ehemaligen DDR und bis zuletzt zu den wichtigen, politisch wie ästhetisch querständigen Künstlern in Deutschland.