Neue Musik 2016
Stabilität und Umbruch

Kritischer Umgang mit der eigenen Geschichte, Neuformatierungen bei Festivals, Weitung des Materials und strukturelle Chancen – 2016 will die Neue Musik mehr als nur konzertante Klänge. Sie betreibt Gesellschaftsanalyse, befragt Gewohnheiten, setzt auch aufs intervenierende Wort.
365 oder - wie heuer - 366 Tage Neue Musik in Deutschland sind nur kalendarisch eine fixe Zeitspanne. Ohne die ästhetischen Entwicklungen und Setzungen sowie die organisatorischen Planungen der vorausgegangen Jahre ließe sich das, was innerhalb von zwölf Monaten alles geschehen ist, kaum adäquat bilanzieren. Ein Jahresrückblick ist demgemäß immer auch die Fort- und Umschreibung vorheriger Rückschauen. So behaupten sich die etablierten Festivals, darunter Ultraschall in Berlin, Eclat in Stuttgart, die Berliner MärzMusik, die Wittener Tage für Neue Kammermusik und die Donaueschinger Musiktage, wiederum als bedeutende Konstanten im zeitgenössischen Kunstklanggetriebe, werden emsig auch von Afficinados der Gegenwartsmusik besucht und entwickeln sich innerhalb ihres selbst gegebenen Rahmens nahezu alljährlich weiter und teils zurück. Nur ein Beispiel: Donaueschingen setzt seit 2015 - unter Björn Gottstein als neuem künstlerischen Leiter - vermehrt auch auf das die dort präsentierte Musik flankierende Wort: Neben etlichen kleinformatigen Komponistengesprächen gab es in diesem Jahr einen im traditionellen Dreitages-Format exponierten Vortrag des britischen Philosophen Roger Scruton, der jedoch vor allem viele gängige (Vor-)Urteile über die Ernste Musik seit Schönberg bereithielt. Prominent als erste „Donaueschinger Lecture“ ausgezeichnet, dürfen wir in den kommenden Ausgaben des weltweit ältesten Neue-Musik-Festivals wohl weitere Lesungen erwarten, wenngleich die die Konzerte ergänzenden Vorträge kein neues Musiktage-Konzept sind. Schon in den 50er/60er Jahren hielten zum Beispiel Heinrich Strobel oder Hans Heinz Stuckenschmidt Lectures in Donaueschingen. Dennoch: Die Idee, das Denken über Musik als performativen Festival-Akt ebenso zu befördern wie das aufgeführte Denken in Musik, ist sehr sinnvoll und hat sich andernorts bereits bestens bewährt.
Geschichte lesen und hören
Bei den Darmstädter Ferienkursen, 1946 gegründet und seit 1970 biennal stattfindend, artikulierte sich in mannigfachen Facetten das Ineinandergreifen von ästhetischem und informativem Klang, von sinnlichem Erleben und reflektierendem Erkennen. Etwa in dem „Historage“-Projekt, zu dem das für die Ferienkurse verantwortliche Internationale Musikinstitut Darmstadt (IMD) in Kooperation mit dem Goethe-Institut einige internationale Künstler-Komponisten eingeladen hatte, sich mit dem auf sieben Jahrzehnte angewachsenen und nun – ein für die Neue-Musik-Szene künftig wichtiges Instrument und ein Novum in der Kulturlandschaft - digitalisierten Archiv der Kursgeschichte auseinanderzusetzen. Und das ganz frei, ohne Vorgaben. Die informationsästhetischen Erkundungen mündeten in durchaus institutionskritischen Resultaten, in verschiedenen Video-Audio-Installationen: zu wenig Beschäftigung mit nichtwestlichen Kulturen (obgleich diesbezüglich in Darmstadt von Anfang an mehr Akzente gesetzt wurden als anderswo in der zeitgenössischen Musik), zu wenig Musik von Komponistinnen und noch seltener war eine Dozentin hier zu Gast. In Sachen Gender erwiesen sich die Ferienkurse ebenso ignorant wie nahezu alle Festivals Neuer Musik und darüber hinaus. Die US-amerikanische Komponistin Ashley Fure, die auch mit der in Darmstadt uraufgeführten magischen Klangszene The Force of Things für einigen Diskussionsstoff sorgte, reflektierte mit ihrem Projekt GRID die soziale Diskrepanz zwischen Männern und Frauen, auch in dem an sich ja gern so wahrgenommenen Gutmenschbiotopen Neuer Musik.Musik(formate) überdenken
„Attack the future“ prangte als Slogan auf allerlei (Druck-)Sachen der diesjährigen Darmstädter Ferienkurse. Nicht nur, aber gerade die Kuratoren - das Gros sind übrigens Männer - sollten die Aufforderung (selbst-)kritisch nutzen. Denn darin liegen echte Chancen. Zu viel wiederholt sich im Festival-Gefüge (sonst) in leichten Varianten jahrein, jahraus. Gleichwohl ist gegen gut, auch riskant programmierte Konzerte gar nichts einzuwenden, zumal sie – was heute mehr denn je der Fall ist – hervorragend interpretiert werden. Die Musik trägt. Aber trägt sie auch allein (noch) ein mehrtägiges Festival? Offensichtlich nein – siehe Donaueschingen, die Münchner Musiktheater-Biennale mit Daniel Ott und Manos Tsangaris als neuer künstlerischer Direktion (ebenfalls mit erweiterter großer Diskussionsplattform vor und während der Veranstaltung), die neuerdings sehr diskursstarke MärzMusik, die sich seit 2015 - unter der Leitung von Berno Odo Polzer – nicht mehr als Festival für aktuelle Musik versteht, sondern als Festival für Zeitfragen, oder der Wirklichkeiten-Kongress an der Stuttgarter Musikhochschule (inklusive Konzerte und Performances im öffentlichen Raum). Und offensichtlich ja – siehe die wachsende Zahl von Festivals in letzter Zeit, etwa in Berlin, in Hamburg, in Köln, in Hannover, in Dresden, im Ruhrgebiet -, mit denen die Veranstalter ganz auf die tönende Emphase der Gegenwartsmusik setzen – ohne additives Beiwort außerhalb der Programmhefte, außerhalb der mehr oder weniger pädagogischen Vermittlungsaktivitäten.Musik plus…
„In der Musik der letzten Jahre wuchs allerlei, lustig anzusehen. So was muss man denn auch gesehen haben, sonst versteht man die Musik nicht mehr.“ 1966 sagte dies Dieter Schnebel auf einer Tagung der damaligen Darmstädter Ferienkurse. Fünfzig Jahre danach stimmt dieser Befund immer noch. Doch was einst noch als „Extras“ gekennzeichnet wurde – so nannte der italienische Komponist Sylvano Bussotti die Erweiterung des bekannten Instrumentariums durch eine Vielzahl von Alltagsgegenständen -, hat sich in jüngster Zeit zum Phänomen „Musik plus“ ausgeprägt. Konzertmusik plus Medien (Ton, Bewegtbilder), Konzertmusik plus (teils raumgreifende) Objekte, als inszenierte Aufführungsräume oder als konzertante Rauminstallationen mit temporären Live-Instrumentalisten und ähnliches mehr. Die erprobten Klangprojektionen mittels Lautsprecher, ob von Zuspiel-CD oder live-elektronisch generiert, sowie die Erfahrungen aus der skulpturalen Klangkunst hinterlassen ihre kreativ sinnvollen Spuren, Musik neu und anders zu denken und bisher unbekannte Erlebnissphären zu gestalten. Dazu gehört auch – sicher noch ein Experiment -, das Publikum als aktiven Mitspieler zu mobilisieren. So geschehen innerhalb des internationalen Projektes „Connect“, bei dem das Ensemble Modern in Frankfurt am Main die deutschen Erstaufführungen der „Audience Partizipation“-Stücke von Huang Ruo (USA) und Christian Mason (UK) verantwortete. Eine in der Organisation und Realisation sehr aufwändige Unternehmung (Vorab-Gewinnung des Publikums, vorbereitende Proben), das die Frontalsituation hier Musiker/dort Zuhörer auflöst und immer wieder interessante wie stets neu zu diskutierende Fragen evoziert, etwa: Wie verhalten sich die ohnehin schon komplex-komplizierten Ingredienzien von Musik und ihrer öffentlichen Darbietung zueinander?Ästhetische und soziale Fragen, die generell für das Musikleben relevant sind, eben auch außerhalb der zunehmend bunter werdenden Szene Neuer Musik, von denen es einige, allerdings überwiegend schon renommierte, wenn nicht bereits gestorbene
Komponisten es in den letzten Jahren wenigstens teilweise geschafft haben, auch bei großen Repertoire-Festivals wie dem Musikfest Berlin oder dem Beethoven-Fest Bonn aufgeführt zu werden.
Punkte versus Linien
Doch abgesehen von den vielen Festival-Inseln, die gegenwärtig existieren und quasi extra-temporal wie extra-territorial das Heute präsentieren, gibt es nach wie vor einige verstetigte Orchester-Konzertreihen, die dem Zeitgenössischen und der „ästhetischen Grundversorgung“ verpflichtet sind. Beispielsweise die musica viva in München, die Musik der Zeit in Köln oder das Forum N in Frankfurt (alle drei vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk getragen, der nach wie vor ein starker Motor für die Gegenwartsmusik ist, auch für viele Festivals). In diesen Veranstaltungszyklen, zudem in denen einiger Konzerthallen, etwa der Kölner Philharmonie, dem Konzerthaus Berlin, Alte Oper Frankfurt, künftig auch in der Ende 2016 fertiggestellten Elbphilharmonie in Hamburg, hat das musikalische Heute einen festen Platz. Überdies verantworten sehr viele Ensembles Neuer Musik eigene Konzertreihen, etwa das ensemble recherche in Freiburg, das Sonar-Quartett in Berlin, das Neue Ensemble in Hannover. Dieses Engagement, auch das einiger Musik- und Kunsthochschulen, nimmt weiter zu, wie auch die Zahl der Ensembles insgesamt wächst. Leider werden diese Aktivitäten und Ambitionen, die sich keinesfalls hinter denen der Festivals verstecken müssen, im Gegenteil oft gar Gewichtigeres zu Tage fördern, überregional kaum wahrgenommen.Stadt – Geld – Fluss
Die polyphonen Spielarten der Neuen Musik sind vor allem in den Großstädten und Metropolregionen beheimatet; Donaueschingen ist hierbei eher ein Ausnahme, gepflegt und gehegt aus Tradition, aber würde heute noch mal jemand in einem Mittelzentrum im Schwarzwald-Baar-Kreis ein Festival für avanciert-experimentelle Musik gründen? Wohl kaum und das ist überaus schade. Die meisten deutschen Städte unterhalb von 100.000 Einwohnern, was in der Summe eine überaus beachtliche Zahl ist, sind in Sachen Neuer Musik, oft aber generell, was Ernste Musik anbelangt, chronisch unterversorgt. Kaum je, wenn überhaupt, findet an diesen Orten ein Konzert mit zeitgenössischer Musik statt.Da kommt der Ende 2016 im Auftrag der Bundesregierung gegründete und mit jährlich rund einer Millionen Euro ausgestattete Musikfonds e.V. zur Förderung der zeitgenössischen Musik zur rechten Zeit. Der Fonds mit eigener Geschäftsstelle in Berlin fördert zeitlich befristete Projekte mit maximal 50.000 Euro aus allen Sparten der experimentellen Musik unserer Zeit, von emphatischer Neuer Musik über Pop der Subkultur bis hin zur installativen und radiophonen Klangkunst. Ein erfreuliches Zeichen, ideell und pekuniär wirksam ab 2017, zugleich verbunden mit dem nachdrücklichen Wunsch, Länder und Kommunen – in Berlin und Baden-Württemberg ist das bereits mit eigenen Förderfonds und ohne die Bundesinitiative geschehen - mögen sich künftig stärker als bisher für die Gegenwartsmusik engagieren.
Das Jahr 2016 war für die Neue Musik in Deutschland ein gutes. Vieles hat sich strukturell stabilisiert und teils verbessert sowie ästhetische Tendenzen und diskursive Themen der letzten drei, vier Jahre – zum Beispiel Neuer Konzeptualismus, Diesseitigkeit, Neuer Realismus, Neue Disziplin – verfeinert. Gleichwohl: Die Neue Musik ist auch weiterhin eine zarte Pflanze, die der individuellen wie kollektiven Aufmerksamkeit und Zuneigung bedarf, da sie mit ästhetischen Äußerungen notwendige Auskünfte über heute und für morgen liefert. Oder wie Edgard Varèse es vor über siebzig Jahren sagte: „Entgegen der herrschenden Auffassung ist der Künstler niemals seiner eigenen Zeit voraus, sondern einfach der einzige, der nicht verspätet ist.“