Moderne und Neue Musik in Deutschland bis 1945
Neue Musik bis 1945: vom Aufbruch zur Zäsur

Folgt man einem Vorschlag des bedeutenden deutschen Musikhistorikers Carl Dahlhaus, so bietet es sich historiografisch an, zwischen einer Jahrhundertwenden-Moderne, die von den 1880er-Jahren bis um 1910 andauert, und einer Entwicklungsgeschichte der Neuen Musik in mehreren Etappen ab 1910 zu unterscheiden.

Tatsächlich kann man aufgrund eines überaus faszinierenden Werkbestandes von einer „Epoche zwischen den Epochen“ um 1900 sprechen, die einerseits eine letzte Hochblüte von Erscheinungsformen der Musik der Romantik artikuliert, andererseits in vielfacher Hinsicht eine Krisenhaftigkeit formuliert, die bereits den Keim des Neuen in sich trägt. Die beiden relevanten Epochenbegriffe „Fin de siècle“ im Französischen und „Moderne“ im Deutschen deuten diese charakteristische Ambivalenz zwischen Endzeit und Aufbruch an.

Eine Epoche zwischen den Epochen

Vor allem innerhalb der Entwicklung deutscher Musik im Anschluss an Richard Wagners epochale Oper Tristan und Isolde, die 1865 in München uraufgeführt wurde und wie kein anderes Werk die fortlaufende Kompositionsgeschichte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägte, spitzte sich der Umgang mit den traditionellen kompositorischen Parametern, besonders in Bezug auf die harmonische Gestaltung, zu: Die klangliche Sättigung mit Dissonanzen hatte in den Werken moderner Komponisten so sehr an Bedeutung gewonnen, dass die funktionalen Bindungen einer Musik, die im Kern auf dem gängigen Dur-Moll-System beruhte, mehr und mehr in Frage gestellt wurden. Innerhalb der sogenannten Zweiten Wiener Schule sprach man in diesem Zusammenhang von „erweiterten“ und schließlich „schwebenden“ Tonalitätsverhältnissen, die zwingende Bezüge zu grundgelegten harmonischen Zentren immer mehr relativierten.

Gustav Mahler Sinfonie Nr. 9 (Hörproben Ausschnitte www.musicline.de)

Repräsentative Werke dieser entscheidenden Phase sind in der deutschen Kompositionsgeschichte ebenso bei Max Reger (Streichquartett in d-Moll op. 74, 1903) oder Richard Strauss (Salome 1905) zu finden wie in Österreich bei Gustav Mahler (Neunte Sinfonie, 1910) oder Arnold Schönberg (Pelléas et Mélisande,1902), flankiert durch entsprechende Erscheinungsformen bei Alexander Skrijabin in Russland oder – schon im Modus rebellischer Ablehnung – Erik Satie in Frankreich. Der Innovationswillen verschiedener Komponisten wurde vor allem durch das Bewusstsein geweckt, dass die Möglichkeiten eines Komponierens in Kontext funktional geordneter Tonalitäten weitgehend ausgereizt waren. Aus dieser Sackgasse heraus suchten sie Schritte in eine „Neue Musik“.

Die Zweite Wiener Schule – Wegbereiter der atonalen Musik

Die Geschichte der Neuen Musik beginnt zweifellos in den 1910er-Jahren und entfaltet sich bis zum katastrophalen Einbruch der totalitären Systeme in Ost und West in zwei wesentlichen Schritten, deren Weiterführung dann allerdings ein ebenso gewaltsames wie abruptes Ende fand. Innerhalb einer ersten „Aufbruchsphase“, die in letzten Erscheinungsformen bis zum Ende der 1920er-Jahre reichte und sich bereits mit einer zweiten Konsolidierungsphase ab etwa 1920 überlappte, fand als ebenso radikale wie zwingende Konsequenz der Krise innerhalb der Jahrhundertwenden-Moderne eine Umorientierung nahezu aller wesentlichen kompositorischen Parameter statt.

Arnold Schönberg Klavierstücke op.11 und weitere Werke (Hörprobe www.schoenberg.at)

Das zumindest äußerlich einschneidende Ereignis vollzog sich sicherlich im Kontext der Zweiten Wiener Schule, wo um 1910 der zunächst die musikalische Öffentlichkeit hochgradig schockierende Schritt in die „freie Atonalität“ vollzogen wurde. Schon in den ersten Werken, wie Arnold Schönbergs Klavierstücken op. 11 (1909), gesellte sich als zwingende Konsequenz zur Auflösung der funktionsharmonisch gebundenen tonalen Harmonik ein athematisches Komponieren – so in op. 11/3, aber auch in Schönbergs Monodrama Erwartung op. 17 (1909) oder den instrumentalen Miniaturen für Violine und Klavier op. 7 (1910) oder Violoncello und Klavier op. 11 (1914) von Anton Webern. Damit wurden die zentralen kompositorischen Parameter ihrer traditionellen musiksprachlichen Anbindung beraubt und die Hörgewohnheiten selbst geschulter Rezipienten vor anfänglich schwer zu bewältigende Aufgaben gestellt. Das drückt sich nicht zuletzt in zahlreichen Skandalkonzerten in kleinerem wie größerem Maßstab aus, so etwa 1913 im Wiener Musikvereinssaal anlässlich der Aufführung von Orchesterwerken der Zweiten Wiener Schule.

„Le sacre du printemps“ und andere Skandale

Igor Strawinsky Sacre du Printemps (Hörprobe www.music-journal.com)

Aber auch in der französischen Musik spitzte sich – nach den Pionierleistungen einer neuen, ebenfalls funktionsharmonisch auffällig gelockerten Klangtechnik eines Claude Debussy oder Maurice Ravel – die Situation während der Pariser Phase des russischen Komponisten Igor Strawinsky zu: Vor allem die Entfesselung einer archaisch-rituellen Rhythmik mit bis dato ungeahnten Irregularitäten und vehementen Schlagabfolgen in Le sacre du printemps schockierte selbst das weltoffene Publikum der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, wie Walter Benjamin Paris genannt hat, in einer Weise, dass die Uraufführung des Balletts 1913 zu einem Skandal wurde.

Edgar Varèse Ionisation (Hörprobe www.deutschegrammophon.com)

Eine Entsprechung fanden diese Erscheinungsformen in den folkloristisch archaisierenden Durchbruchswerken Béla Bartóks (beispielsweise Allegro barbaro Sz. 49, 1911 oder Der wunderbare Mandarin von 1918/19 mit Skandalaufführung in Köln) oder einige Zeit später in den Klangkörperkompositionen von Edgar Varèse, wie etwa Amériques (1918–21/27) oder als erstem Schlagzeugensemblestück der Musikgeschichte in Ionisation von 1929–1931.

Vom Aufbruch zur Absicherung

Die Durchbruchsenergien dieser ersten Phase einer Neuen Musik des 20. Jahrhunderts ließen sich an Vehemenz und Verstörung kaum überbieten. Die zentralen Orte avantgardistischer Fokussierung waren das Paris der Jahrhundertwende und Wien um 1910. In den 1920er-Jahren trat dann schließlich die Radikalität einer rücksichtslosen Aufbruchssituation auch in Berlin in Erscheinung, das sich zu einem dritten Zentrum entwickelte. Hier sorgte das hemmungslos-dissonante Komponieren von Paul Hindemith für ähnliche Skandale – vor allem auch durch den selbstverständlichen Einbezug musikalischer Phänomene aus Unterhaltungs- und Tanzmusik sowie aus dem Jazz, beispielsweise in Klaviersuite 1922, der sich mit einer ebenfalls wilden, nahezu maschinenartigen Motorik im rhythmischen Bereich verband.

Zur selben Zeit begannen jedoch bereits erste wesentliche Konsolidierungstendenzen aufzutreten, die die ebenso befreienden wie rebellischen Energien der Aufbruchssituation in eine neue ästhetische Stimmigkeit oder gar Absicherung bringen wollten. Der Phase einer in der Musikgeschichte wohl einzigartigen Ungebundenheit und Freiheit des Komponierens, so wie sie von Theodor W. Adorno für die Wiener Atonalität in Anschlag gebracht wurde, musste eine Stabilisierung der rhythmisch-klanglichen Neuerungen folgen, die letztlich auch eine Zukunftsperspektive eröffnete. Bemerkbar machte sich dies innerhalb der neoklassizistischen Wende Igor Strawinskys, erstmals in dem Ballett Pulcinella (1919/20), deren Stil das Komponieren des großen Russen mehrere Jahrzehnte, bis hin ins US-amerikanische Exil prägen sollte. Die zurückgreifende Adaption stilistischer und formaler Elemente der Vergangenheit, die zugleich einen Verfremdungs- und Umwertungsprozess unterzogen wurden, hatte eine internationale Ausstrahlung, die letztlich bis zum heutigen Zeitpunkt in manchen Erscheinungsformen nachwirkt.

Arnold Schönberg und Paul Hindemith

Der ersten Konsolidierungsmaßnahme der Neuen Musik folgte eine nicht weniger gravierende zweite, als Schönberg 1921 im Wiener Vorort Mödling erstmals die „Technik einer Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen“ bekannt gab. Die Dodekafonie entfaltete im Unterschied zum neoklassizistischen Stil ein strukturelles Regelsystem, das sich zudem, wie in manchen Werken Schönbergs der 1920er-Jahren (Serenade op. 24, 1920–23 oder Klaviersuite op. 25, 1921–1923), mit klassizistischen Absicherungsstrategien verband. Die Funktion der neu gewonnenen Satztechnik sollte eine doppelte sein: Einerseits war sie als Ersatz für die Organisationsformen des tonalen Systems gedacht, andererseits sollte durch ihre Anwendung wieder weiträumiger disponierte Formabläufe ermöglicht werden.

Noch einen Schritt weiter gingen die Konsolidierungsbestrebungen Paul Hindemiths, der in seiner „Unterweisung im Tonsatz“ (1937/39) eine fundamentale und neue Bewertung aller möglichen Zusammenklangsbildungen anstrebte und somit den Anspruch eines neu gewonnenen, universalen harmonischen Systems stellte. Bereits in den 1920er-Jahren hatte sich in seinem Komponieren eine Tendenz zur Neuen Sachlichkeit eingestellt, die sich ebenfalls bald mit Aspekten klassizistischen Rückgriffs, hier vor allem auf barocke Vorbilder, verband. Sein Ludus tonalis für Klavier (1942), das in Anlehnung an Bachs Wohltemperiertes Klavier entwickelt wurde, liefert ein ebenso spätes wie prototypisches Beispiel für diese Verquickung von neuer Tonsatzlehre, sachlichem Anspruch und historischer Anbindung.

Paul Hindemith Ludus tonalis, Klaviersuite 1922 (Hörprobe www.hyperion-records.co.uk)
Arnold Schönberg Serenade op. 24 und weitere Werke (Hörprobe www.schoenberg.at)

Natürlich waren sowohl die Aufbruchsenergien der ersten wie die Konsolidierungsphasen der zweiten Phase Neuer Musik weit gestreut und wurden über die Heroen hinaus von vielen Komponisten mitgetragen. In Wien existierte ein reicher Schülerkreis um Schönberg, zu dem neben Anton Webern und Alban Berg eine Vielzahl junger Komponisten zählten, so auch Hanns Eisler, der später zur zentralen Komponistenpersönlichkeit der Nachkriegs-DDR wurde. In Berlin entfaltete sich ein politisch motivierter Expressionismus bei Stefan Wolpe ebenso wie der rhythmisch-motorisch gespannte Stil eines Viktor Ullmann, der 1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. In Paris entfaltete sich schon bald neben der virtuos-eklektischen Klangkunst Ravels der spielerisch verfremdende Klassizismus der „Groupe des Six“ um Francis Poulenc und Darius Milhaud.

Katastrophe und Zäsur: Nationalsozialismus und Stalinismus

Die Entwicklung dieses Konsolidierungsprozesses der Neuen Musik wurde jedoch durch die Barbarei des Nazi-Terrors und des Stalinismus’ in ihrem natürlichen Fortgang abrupt zerstört, so dass sich die Situation spätestens ab Mitte der 1930er-Jahre – im Einzugsbereich der Sowjetunion schon entschieden früher – völlig neu zusammenstellte.

Einerseits fand eine aggressive Zerstreuung bis Vernichtung der Vertreter der Neuen Musik unter dem Attribut des „Entarteten“ statt. Die Emigration fast aller Pioniere der Neuen Musik war die Folge – man denke nur an Schönberg, Strawinsky, Hindemith, Bartók, Varèse – sowie die Inhaftierung und Ermordung vor allem jüdischer Exponenten. Das bevorzugte Emigrationsland waren die Vereinigten Staaten, die mit Charles Ives und Henry Cowell mittlerweile ebenfalls einen sehr eigenen Weg in eine traditionsentlastete Neue Musik gefunden hatten. Gleichzeitig entfaltete sich eine weitgehend am spätromantischen Überhang orientierte jüngere Komponistengeneration, deren Vertreter – Richard Strauss oder Hans Pfitzner – sich jeweils auf verschiedene Weise mit dem Regime einließen und sich wohlwollend bis emphatisch den ästhetischen Maximen der Nationalsozialisten verschrieben.

So etwa auch Richard Trunk, der 1931 in die NSDAP eintrat und drei Jahre später Direktor der Münchner Musikhochschule wurde und bis Kriegsende blieb. Unter seiner Aufsicht diente sich die Hochschule dem Regime an; Trunk selbst komponierte für Hitler den Zyklus Feier der neuen Front op. 65. Aber auch jüngere Komponisten versuchten sich unter den Vorzeichen einer gemäßigten Moderne zumindest mit den Nationalsozialisten zu arrangieren, wie zum Beispiel Carl Orff und Werner Egk. Andere Künstler wählten dagegen die innere Emigration, die fernab von jeglichem musikalischen Leben in einer selbst gewählten Einsamkeit und damit Ausgeschlossenheit verlief; beispielsweise der Symphoniker Karl Amadeus Hartmann, der sich dann nachdrücklich innerhalb der Nachkriegsgeschichte für ein Wiederaufleben und Anknüpfen der Neuen Musik einsetzte.

Karl Amadeus Hartmann Concerto funebre (Hörprobe www.sound-library.net)

Das Erbe des zivilisationsgeschichtlich katastrophalen Einbruchs für die Musik nach 1945 bedeutete eben das: An eigens dafür etablierten Zentren wie Darmstadt oder der Weiterführung von Pflegestätten Neuer Musik wie Donaueschingen oder in Rundfunkanstalten musste der Anschluss und die Aufgabenstellung der Neuen Musik neu gefunden und weiterentwickelt werden.