Neue Musik in Deutschland nach 1945
Neue Musik – nach der Stunde Null
Der kulturellen Zäsur, die das nationalsozialistische Regime und der Zweite Weltkrieg darstellten, folgte in Bezug auf die sogenannte „ernste Musik“ ein radikaler Neuanfang.
Von der Öffnung Deutschlands gegenüber dem Ausland, die diesen Neuanfang markierte, profitierte auch die Entwicklung einer Neuen Musik, die vor allem in zwei Zentren vorangetrieben wurde: Darmstadt und Donaueschingen.Öffnung nach 1945 – Neue Kompositionstechniken
Unter Bezugnahme auf Anton Weberns streng konstruktivistische Kompositionstechnik und auf das „modus“-orientierte Verfahren Olivier Messiaens formulierte man ein Verfahren, das die Vorabdisposition der Parameter Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und Klangfarbe als notwendig ersten Schritt des kompositorischen Handelns auswies. Der anfänglichen Konzentration auf dieses „seriell“ genannte Verfahren der musikalischen Komposition, die bis zum Beginn der 1960er-Jahre andauerte, folgte die Erschließung des tendenziell unbegrenzten musikalischen Materials bis hin zum Geräusch.Ort des kompositorischen Vorausdenkens im Sinne einer „Avantgarde“ war Darmstadt, das mit der Einrichtung der international ausgerichteten Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik ein diskursives Äquivalent zum Aufführungsort Donaueschingen darstellte. Theodor W. Adorno, der der „Darmstadt-Gemeinde“ als der maßgebliche Theoretiker einer neuen, am Theorem des musikalischen Fortschritts orientierten Musiksprache galt, sorgte für eine anhaltend kritische Auseinandersetzung mit dem kompositorischen Handwerk und seinem musikalischen Material, allerdings auch für deren nachhaltige Ideologisierung.
Mauricio Kagel Hörbeispiele (Hörprobe www.edition-peters.de)
Pierre Boulez Le marteau sans maître und weitere Werke (Hörprobe www.universaledition.com)
Der Franzose Pierre Boulez, der Deutsche Karlheinz Stockhausen, der aus den Niederlanden stammenden Komponist Karel Goeyvarts, die Italiener Luigi Nono und Luciano Berio, der aus Argentinien stammende Mauricio Kagel, der Grieche Iannis Xenakis, die polnischen Komponisten Witold Lutoslawski und Krzysztof Penderecki sowie der aus Ungarn geflohene György Ligeti waren herausragende Persönlichkeiten jener Phase der Neuen Musik und sind es bis heute geblieben. Andere, beispielsweise Karl Amadeus Hartmann oder Hans Werner Henze, entzogen sich dem Darmstadt-Mainstream, den sie als Zwangssystem empfanden, und gingen erfolgreich gänzlich eigene Wege.
Cage und die europäische Avantgarde
Der Auftritt des Amerikaners John Cage 1958 in Darmstadt, der vielen als Wendepunkt der europäischen Geschichte der neuen Musik gilt, erfolgte zu einer Zeit, in der die seriellen Verfahrensweisen von innen heraus bereits heftig in Kritik geraten und von einigen der bedeutenden Komponisten jener Zeit überwunden waren. Cages Konzepte des Zufalls, der Unbestimmtheit, der „Gleichbehandlung“ aller Klänge – auch der Geräusche – als musikalische, der Einbeziehung der Stille sowie der „Befreiung“ des Interpreten waren dennoch von elementarer Wirkung auf die europäischen Komponisten und die neue Musik der Folgejahre.John Cage Imaginary Landscape No 1 (Hörprobe www.medienkunstnetz.de)
Unter den hervorragenden Komponisten, die sich dem musikalischen Experiment zuwandten, ist auch der bereits erwähnte Mauricio Kagel zu nennen, der mit seinem experimentellen Musiktheater viele der gegenwärtigen Entwicklungen und Komponisten beeinflusste. Andere Formen des Experiments waren durch die Einbeziehung des Publikums, den Umgang mit offenen Formen, grafischen Notationsweisen und improvisatorischen Verfahren gekennzeichnet.
Politisierung – Die 1960er- und 1970er-Jahre
Getragen von sozialistischen Idealen und dem Eindruck der Studentenrevolte sahen einige Komponisten die Notwenigkeit einer Politisierung der Musik, um sie als Mittel zur gesellschaftlichen Befreiung einzusetzen. Die bedeutendsten Protagonisten dieser Haltung in Deutschland waren vor allem Hans Werner Henze und Nicolaus A. Huber, in anderer Weise auch Mathias Spahlinger.Nikolaus A. Huber Seifenoper (Hörprobe www.breitkopf.com)
Hans Werner Henze Erlkönig (Hörprobe www.sound-library.net)
Wolfgang Rihm In Schrift und weitere Werke (Hörprobe www.universaledition.com)
Anfang der 1970er-Jahre wurde von einem Journalisten das Schlagwort von der „Neuen Einfachheit“ geprägt. Dahinter stand die Absicht, die Rückbesinnung auf genuin musikalische Techniken und Verfahrens- und vor allem Wirkweisen, wie sie von Hans Jürgen von Bose, Wolfgang Rihm und Manfred Trojahn in die Musik zurückgebracht wurden, abzuqualifizieren.
Die Kompositionen der Genannten kamen tatsächlich einem Tabubruch gleich, indem sie offen zur Emotionalität und Wirkmächtigkeit von Musik bekannten – Qualitäten, die durch den Missbrauch, den Musik in der Nazi-Zeit erfahren hatte, in Verruf geraten waren.
Helmut Lachenmann Fünf Variationen über ein Thema von Franz Schubert (Hörprobe www.breitkopf.com)
Der Stilpluralismus, der das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts kennzeichnete, brachte in Deutschland die Mikropolyfonie eines György Ligeti, die „musique concrète instrumentale“ eines Helmut Lachenmann und die reduktionistische Musik eines Walter Zimmermann sowie viele weitere Differenzierungen einer Musiksprache hervor, die in mehr und mehr zum „anything goes“ tendiert.
Künstliche Klangerzeugung
Die Schaffung eines Netzes elektronischer Studios, das sich über ganz Europa spannte, ermöglichte die Erforschung und Anwendung synthetischer Klänge und der Klänge und Geräusche der Umwelt seit der Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Die bedeutendsten Studios im Deutschland der Nachkriegsjahre waren das Studio für elektronische Musik des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR, später WDR) in Köln, das Siemens Studio in München – heute nicht mehr existente Einrichtungen, wobei das Siemens Studio immerhin im Deutschen Museum München besichtigt werden kann – und das elektronische Studio des Süddeutschen Rundfunks in Baden-Baden, aus dem das heutige Experimentalstudio in Freiburg hervorging.Karlheinz Stockhausen Gesang der Jünglinge (Hörprobe www.medienkunstnetz.de)
Wichtige Persönlichkeiten, die hier die Entwicklung der elektronischen Klangerzeugung vorantrieben, waren Werner Meyer-Eppler, Herbert Eimert, Karlheinz Stockhausen, Gottfried Michael Koenig und Josef Anton Riedl.
Die Nutzbarmachung des Computers für die Entwicklung von Klängen und prozesshaften musikalischen Ereignissen ermöglichte das algorithmische Komponieren, die Erzeugung künstlicher und die Nachahmung und Manipulation natürlicher Klangwelten.
Hanspeter Kyburz Streichquartett (Hörprobe www.breitkopf.com)
Als Protagonisten einer Musik, die auf elektronische Mittel und Verfahren basiert, können heute unter anderen Hanspeter Kyburz, Enno Poppe und Ludger Brümmer genannt werden. Ludger Brümmer leitet auch das Institut für Musik und Akustik des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, einer Institution, die sich in besonderer Weise um die Erforschung der elektronischen Klangwelten und des spartenübergreifenden Zusammenwirkens der Künste verdient macht.
Die Ausdifferenzierung der Schreibweisen und Stile hat aber auch zu einer „Verfransung“ der musikalischen Kunst geführt, als deren besondere Form die Klangkunst gelten kann, die sich steigender Akzeptanz erfreut. Neben Christina Kubisch sind etwa Rolf Julius und das Künstlerpaar Joachim Krebs/Sabine Schäfer zu nennen, als einer der hervorragenden Orte der klangkünstlerischen Präsentation die Berliner Galerie singuhr.