Die Rolle der Rundfunkanstalten
Die Bedeutung der Rundfunkanstalten für die Neue Musik in Deutschland

Das Rundfunkwesen wurde in Deutschland nach 1945 völlig neu aufgebaut. Vor allem in der Bundesrepublik entstanden so Rundfunkeinrichtungen, die sich in einzigartiger Weise um die Neue Musik verdient gemacht haben.

Umerziehung? Re-Education? Ein befremdliches Wort, wenn eine alte Kulturnation über ein doch eigentlich sehr glanzvolles Thema Auskunft gibt. Und doch: Wer über die außerordentlichen kulturellen Aufbauleistungen des deutschen Rundfunkwesens nach dem Zweiten Weltkrieg spricht, kommt nicht umhin, zunächst einmal einzuräumen, dass hier eine Besatzungsmacht den Deutschen ganz neue, hochinnovative Rundfunkstrukturen aufgezwungen hat. Denn von 1933 bis 1945, in der Zeit des Nationalsozialismus also, ist der Rundfunk in Deutschland ausschließlich ein Propagandainstrument Hitlers gewesen.

Der Rundfunk als Stütze gesellschaftlicher Ordnung

Nach dem Krieg nutzten die Besatzungsmächte den Rundfunk, um die politische Nachkriegsordnung zu stabilisieren. Die westdeutschen Rundfunkanstalten wurden nach dem Vorbild der englischen BBC als möglichst eigenständige und staatsferne Einrichtungen organisiert. 1950 bildete sich aus fünf regionalen Anstalten die Arbeitsgemeinschaft öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, die ARD. In Ostdeutschland entstand dagegen mit dem Rundfunk der DDR ein neuer Einheitssender. In beiden Teilen des Landes wurden mit der Rundfunkneuordnung gesellschaftspolitische Zielsetzungen verfolgt, was auch auf die musikalischen Aktivitäten ausstrahlte.

Allerdings mit gewaltigen Unterschieden: Im Osten war Publikumsnähe und Realismus gefragt, der Breitengeschmack sollte angesprochen werden. Ganz anders im Westen: Hier boten die Rundfunkanstalten Musikern auch eine Experimentierbühne für Kunstformen fernab des Massengeschmacks. Ein künstlerischer und ästhetischer Neuanfang nach der Nazizeit war das Ziel junger Komponisten nach 1945. Diese grundlegend unterschiedliche Haltung zum Kulturauftrag des Rundfunks wie auch des Staates an sich wirkt bis heute nach. So muss sich Kunst aus DDR-Zeiten dem Vorwurf stellen, zu wenig innovativ, ästhetisch zu vorsichtig und anbiedernd zu sein. Die Avantgardekunst des Westens hingegen kann für sich in Anspruch nehmen, viel ästhetisches Neuland gewonnen zu haben. Aber interessieren tun sich dafür nur wenige, was ihr den Ruf eingetragen hat, von fragwürdiger gesellschaftlicher Relevanz zu sein.

Mit Avantgardekunst gegen den Kommunismus

So wird den Alliierten immer wieder vorgeworfen, bewusst abstrakte, und das heißt oft auch: sozialen Problemen abgewandte Kunst gefördert zu haben, um linke Positionen zu schwächen. Tatsächlich sind sogar die abstrakten Maler der New-York-School, vor allem Jackson Pollock, direkt von der CIA alimentiert worden. Fraglos war die Kunstförderung Teil der Propaganda im Kalten Krieg zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten. Aber wie dem auch sei, die Bemühungen, den Rundfunk als Ort innovativer Kunstproduktion fernab der Marktzwänge zu etablieren, haben jedenfalls eindrucksvolle Resultate gezeitigt. Beispielsweise konnte Herbert Eimert, der schon in den 1920er-Jahren radikale Vorstellungen von moderner Klangfarbenmusik propagiert hatte, im Studio für elektronische Musik beim Nordwestdeutschem Rundfunk in Köln seine Vorstellungen endlich realisieren. Bald darauf schufen hier führende Avantgardekomponisten wie Karlheinz Stockhausen, Henri Pousseur oder Karel Goeyvaerts mit Sinusgeneratoren und anderen Utensilien der Rundfunk- und Messtechnik komplexe Tonbandmusik. 1971 etablierte der Südwestfunk in Freiburg ein eigenes Experimentalstudio, das vor allem durch die Realisierung großer Werke von Luigi Nono berühmt wurde.

Der Rundfunk als Veranstalter

Neben den elektronischen Studios sind es vor allem die zahlreichen den Rundfunkanstalten angegliederten Klangkörper, Sinfonieorchester und Chöre, die mit ihrem Engagement für Neue Musik sowie zahllosen Kompositionsaufträgen vielen bedeutenden Komponisten ein Forum bieten. Als Beispiel sei hier das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden Freiburg genannt: Das Orchester fand 1946 durch den ersten Musikchef des neu gegründeten südwestdeutschen Senders, Heinrich Strobel, schnell zu einer außerordentlich ambitionierten Programmgestaltung. Strobel konnte den legendären Dirigenten Hans Rosbaud gewinnen, der die Gelegenheit nutzte, Neue Musik in exemplarischer Qualität aufzuführen. Seine Nachfolger, Hans Zender, Michael Gielen oder Sylvain Cambreling sind dieser Tradition bis heute verpflichtet. Bald wurde das Orchester auch einer der wichtigsten Teilnehmer der Donaueschinger Musiktage; bis heute hat es hier um die 400 Uraufführungen, zum Beispiel von Hans Werner Henze, Wolfgang Fortner, Bernd Alois Zimmermann, György Ligeti, Krzysztof Penderecki, Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio, Olivier Messiaen, Wolfgang Rihm und Helmut Lachenmann bestritten. Zudem versteht man sich als Kulturbotschafter: Mehr als 70 Tourneen verzeichnet die Orchesterchronik bis heute, regelmäßig ist man zu Gast beim Festival d'Automne Paris oder den Salzburger Festspielen.

Neben den legendären Donaueschinger Musiktagen, bis heute die wichtigste "Messe" für Neue Musik in Deutschland mit weltweiter Ausstrahlung, werden auch andere Festivals, wie etwa die Wittener Tage für neue Kammermusik von Rundfunkanstalten mitgetragen. Rundfunkgetragene Konzertreihen wie Das Neue Werk (NDR Hamburg), Musik der Zeit (WDR Köln) und musica viva (BR München) runden das Bild ab. So hat der Rundfunk in der Bundesrepublik Deutschland Musikgeschichte geschrieben. Wenn einmal die musikalische Entwicklung der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts dargestellt wird, wird festzustellen sein, wie viel an musikalischen Neuerungen ursächlich mit den Auftragskompositionen des Rundfunks verbunden war. Es wäre wohl keine andere Institution öffentlicher Musikpflege in der Lage gewesen, Ähnliches zu bewirken. Bleibt zu hoffen, dass dieser innovative Einfluss in Zeiten knappen Geldes und kommerziellen Pop-Radios nicht verschwindet.