Die deutsche Ensemble-Szene
Ein Überblick

Von Krise keine Spur, zumindest auf den ersten Blick: Etwa 200 freie Ensembles für Neue Musik gibt es heute in Deutschland. Hinzu kommen die Klangkörper der Rundfunkanstalten sowie diverse städtisch oder staatlich subventionierte Orchesterformationen, die sich mit unterschiedlichem Engagement für die Aufführung zeitgenössischer Musik einsetzen – sei es mit einer eigenen Konzertreihe (zum Beispiel musica viva des Bayerischen Rundfunks), mit einzelnen Programmakzenten und Auftragswerken oder mit eingeladenen „composers in residence“.

Immerhin zählte man in den Jahren 2005/2006 durchschnittlich 1,7 Uraufführungen pro Tag. Wesentlich angeregt und realisiert wurden diese jedoch durch die lebendige und vielseitige deutsche Ensemble-Szene für Neue Musik, die sich seit den 1980er-Jahren insbesondere in Westdeutschland als Pendant zur zeitgleich entstandenen Szene der Alten Musik entwickelt hat. Die zahlreichen freien Ensembles, die sich auf das Repertoire des 20./21. Jahrhunderts spezialisiert haben, nehmen im Konzertleben eine mittlerweile unverzichtbare Stellung im Hinblick auf exemplarische Aufführungen selten gespielter Stücke, Uraufführungen, die enge Zusammenarbeit mit lebenden Komponisten, die Professionalisierung und Vermittlung neuer Spieltechniken sowie das Experimentieren mit ungewöhnlichen Konzertformen und Performances in Wechselbeziehung mit visuellen Medien oder anderen Kunstformen ein.

Anfänge – Ein Blick zurück

Spezialensembles für Neue Musik als feste Institutionen entstehen in Deutschland erst mit einem in den 1980er-Jahren einsetzenden Gründungsboom. Gleichwohl wurde bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts Musik für individuell zusammengestellte Ensemblebesetzungen komponiert (beispielsweise Schönbergs Pierrot Lunaire 1912, Strawinskys L’Histoire du Soldat 1918) und formierten sich bereits in den 1970er-Jahren einige der bis heute führenden Spezialensembles, etwa 1974 das Schönberg Ensemble und 1976 das Ensemble Intercontemporain.

Als erstes und lange Zeit einziges professionelles Solisten-Ensemble der Bundesrepublik, das sich ausschließlich auf die Interpretation Neuer Musik konzentriert, setzt das 1980 gegründete und seit 1985 in Frankfurt am Main beheimatete Ensemble Modern bis heute Maßstäbe, weit über Deutschland hinaus. Über 400 Uraufführungen, meist in enger Zusammenarbeit mit Komponisten, mehr als 30 CD-Produktionen, weltweit gut hundert Konzerte im Jahr und eigene Veranstaltungsreihen zeugen von einer erfolgreichen Bilanz. Neben dem Ensemble Modern arbeiten heute drei weitere Ensembles „hauptberuflich“: das 1985 in Freiburg im Breisgau gegründete ensemble recherche, die musikFabrik in Köln (seit 1990) und die Neuen Vocalsolisten Stuttgart (seit 1984).

In Ostdeutschland formiert sich bereits 1970 die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler, die aus Mitgliedern des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig bis 1993 bestand. Dem Namenspatron Hanns Eisler verpflichtet, wurde das Ensemble zu einem wichtigen Aufführungsorgan der mittleren Komponistengeneration der DDR, zugleich war das Ensemble aber auch ein Fenster zum Westen durch Aufführungen von Werken bereits etablierter Komponisten wie Xenakis, Cage, Yun oder Rihm. Insbesondere der Musik Stockhausens verschrieb sich das 1980 in Weimar gegründete und bis heute existierende Ensemble für Intuitive Musik.

Facettenreich und flexibel – Besetzungen

Die heute anzutreffende Repertoirevielfalt Neuer Musik geht mit den facettenreichen Ensemblebesetzungen einher. Von der klassischen Streichquartettbesetzung (Minguet Quartett, Modern String Quartet), ungewöhnlichen Duoformationen (Duo Conradi/Gehlen, Duo Moving Sounds), Blockflötentrio (les trois en bloc- Ende 2009 aufgelöst, Anm. d. Red.) oder fünf E-Gitarren (Go Guitars) bis hin zu Ensembles mit bis zu 15 oder mehr festen Mitgliedern (Ensemble Aventure, ascolta, ensemble courage, ensemble mosaik, Die Maulwerker) reichen die Gruppierungen. Zudem zeichnen sich die meisten Ensembles durch eine Besetzungsflexibilität aus, die traditionellen Klangkörpern fremd ist. Selbst wenn es eine Kernbesetzung gibt, wird diese gegebenenfalls variiert oder erweitert, oft entsprechend der Wünsche eines Komponisten. In den letzten Jahren wurde wiederholt Live-Elektronik eingebunden, vereinzelt kamen auch außereuropäische Instrumente zum Einsatz.

Standorte – Konzentration im Südwesten

Die international konkurrenzfähigen Ensembles für Neue Musik sind derzeit im (Süd-)Westen Deutschlands beheimatet. Nicht überraschend ist, dass insgesamt städtische Ballungsräume eine größere Ensembledichte aufweisen als ländlich geprägte Gebiete. In Berlin tummelt sich mittlerweile zwar die größte Szene, überregionale „Leuchttürme“ unter den Ensembles sind jedoch anderswo beheimatet. Städte wie Kiel, Hamburg, Leipzig, Nürnberg oder München weisen zwar einige Initiativen vor, bleiben aber im Ranking zurück.

Dass in den neuen Bundesländern neben dem Dresdner ensemble courage oder dem Weimarer Ensemble für Intuitive Musik kaum eine Formation überregional präsent ist, mag auch an dem im Westen über Jahre etablierten Nährboden mit gewachsenen Festivals, dem Engagement der Rundfunkanstalten oder speziellen Ausbildungsvoraussetzungen liegen. Die Tatsache, dass sich etwa in Freiburg im Breisgau in Relation zur überschaubaren Einwohnerzahl eine große Ensembledichte entwickelt hat, geht auf Impulse durch Persönlichkeiten wie Klaus Huber oder Brian Ferneyhough zurück, die einst an der dortigen Musikhochschule lehrten. Eine Vernetzung diverser lokaler Aktivitäten ergibt sich durch Regionalgesellschaften der Gesellschaft für Neue Musik (GNM) und verstärkt auch über das von der Bundeskulturstiftung initiierte Netzwerk Neue Musik, das in den Jahren 2008 bis 2011 fünfzehn ausgewählte Modellprojekte zur Vermittlung Neuer Musik fördert.

Freiberuflich, hauptberuflich – Organisation und Finanzen

Die freien Ensembles für Neue Musik sind überwiegend aus Privatinitiativen entstanden und vergleichbar mit freien Unternehmen, die Entscheidungen und wirtschaftliches Risiko eigenverantwortlich tragen. Pressearbeit und Management werden von den meisten Ensembles selbst geleistet, weil finanzielle Ressourcen für spezialisierte Vollzeitkräfte fehlen. Häufig verdienen die Ensemblemitglieder ihren Lebensunterhalt mit anderweitigem Engagement und mindern dadurch auch die Anzahl der Konzerte im Vergleich zu den hauptberuflich arbeitenden Gruppierungen.

Das basisdemokratisch organisierte, 18-köpfige Ensemble Modern ist seit 1987 eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), arbeitet ohne künstlerischen Leiter und entscheidet über Projekte, Gastmusiker, Koproduktionen und finanzielle Belange stets gemeinsam. Immerhin unterstützt eine befristete Regelförderung durch den Bund zwei wichtige Initiativen: das Ensemble Modern Orchestra und die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA). Im Gegensatz dazu arbeiten viele andere Ensembles allein auf der Basis von ideellem Engagement – oft am Rande des Existenzminimums ohne Planungssicherheit und regelmäßige Zuschüsse durch die öffentliche Hand. Die Förderung mit Fremdmitteln spielt daher eine äußerst wichtige Rolle. So bleibt für die lebendige Ensemble-Szene zu wünschen, dass die gesellschaftliche Relevanz der Neuen Musik trotz der allgemeinen Spartendenz im Kulturbereich erkannt, gewürdigt und finanziell gefördert wird.