Konzert- und Festivallandschaft
Neue Musik erleben

Die Neue Musik hat sich in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte mit einer gewissen Selbstverständlichkeit etabliert – von Kiel bis nach Donaueschingen, von Saarbrücken bis nach Dresden. 

Kaum ein anderes Land widmet der Neuen Musik eine so rege und abwechslungsreiche Konzert- und Festivallandschaft wie Deutschland, die große international ausgerichtete Veranstaltungen genauso umfasst wie auf Eigeninitiative zurückgehende Werkstätten kleineren Formats.

Das Festival als Paradigma: Darmstadt und Donaueschingen

Auch wenn die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik, die seit 1946 vom Internationalen Musikinstitut Darmstadt  (IMD) ausgerichtet werden, zunächst als eine bloße Vermittlungs- und Ausbildungsinstanz für Musiker und Komponisten konzipiert wurden, wurden sie doch als Festival wahrgenommen. Von Darmstadt ging lange eine gewisse Definitionsmacht aus. Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono legten die Avantgarde hier in den 1950er-Jahren auf die serielle Technik fest. 1958 schockierte John Cage die europäischen Komponisten hier mit seiner anarchischen Ästhetik. In den 1970er-Jahren wurden in Darmstadt die teils erbittert geführten Kämpfe zwischen neuer Einfachheit und neuer Komplexität ausgetragen. Noch heute sind die nunmehr zweijährlich stattfindenden Ferienkurse ein lebendiges Forum, das als Plattform der jungen Generation immer wieder Tendenzen der Gegenwartsmusik vorwegnimmt.

Ganz anders Donaueschingen, das nicht nur stets ein echtes Publikumsfestival gewesen ist, sondern die Neue Musik auch schon lange vor der Zäsur des Jahres 1945 förderte. Bereits 1921 hatte der Fürst von Fürstenberg die Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst protegiert. Damals wurde Paul Hindemiths Streichquartett opus 16 uraufgeführt. Seit 1950 ist der Südwestrundfunk (SWR, vormals SWF) bei den Musiktagen federführend. Im Mittelpunkt stehen seither vor allem Orchesterwerke, die den traditionellen Apparat auf seine avantgardistische Eignung hin aushorchen. Mit seinem beeindruckenden Aufgebot und dem bemerkenswerten Publikumszuspruch gilt Donaueschingen bis heute als weltweit wichtigstes Festival für neue Musik.

Der Rundfunk als Mäzen

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben der neuen Musik stets besonderes Gewicht verliehen. Sie vergeben Kompositionsaufträge, schöpfen das Potenzial die exzellent ausgebildeten Klangkörper aus und machen die neue Musik per Radioübertragung einem breiten Publikum zugänglich.

Viele Rundfunkanstalten folgten damals dem Beispiel des SWR in Donaueschingen. Der Westdeutsche Rundfunk (WDR), der 1951 in Köln die Konzertreihe „Musik der Zeit“ initiierte und die neue Musik seither beispielhaft fördert, beteiligt sich seit 1968 maßgeblich an den Wittener Tagen für neue Kammermusik, dem neben Donaueschingen wohl wichtigsten Festival. Mit ihrem Fokus auf kleine Besetzungen leben die Wittener Tage vom hohen kompositorischen und interpretatorischen Anspruch. Vor allem gattungshistorisch wurden in Witten Weichen gestellt, wie im Falle der Renaissance des Streichquartetts, die ohne dieses Festival nicht denkbar ist.

Andere Rundfunkanstalten zogen die Konzertreihe dem Festival vor, allen voran der Bayerische Rundfunk (BR), der bereits 1945 die Münchner „musica viva“ ins Leben rief. Diese unter anderem von Karl Amadeus Hartmann, Wolfgang Fortner und Udo Zimmermann geleitete Reihe hat sich nicht nur den Uraufführungen, sondern auch der Wiederaufführung aktueller Werke verpflichtet. Im Fokus der Konzertreihe stehen sowohl Orchesterwerke wie auch die im „Studiokonzert“ gepflegte Kammermusik mit experimentellem Einschlag. Mit einem musica viva-Festival versuchte man 2008 erstmals auch ästhetische Ideen und Begriffe zu bündeln.

Ein ähnliches Profil verlieh der Norddeutsche Rundfunk (NDR) seiner Konzertreihe „das neue werk“, die erstmals 1951 stattfand. Bis heute bietet die Reihe ein breit gefächertes Bild der neuen Musik, die vor allem den Klassikern der Moderne Raum gewährt und sich unter anderen für György Ligeti stark machte. Als Nachzügler seien noch der Saarländische Rundfunk (SR) und der Hessische Rundfunk (HR) genannt, die seit 1970 mit ihrer „Musik im 20. Jahrhundert“ respektive seit 1989 mit dem „Forum Neue Musik“ vergleichbare Veranstaltungsreihen ausrichten. Zu einer ungewöhnlichen Liaison kam es in Berlin, als der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) und Deutschlandradio Kultur 1999 „Ultraschall“ ins Leben riefen. Das zehntägige Festival überzeugt seither mit seinen Komponistenporträts und Wiederaufführungen auf einem hohen interpretatorischen Niveau.

Bund, Länder, Universitäten

Neben den Rundfunkanstalten machen sich in Deutschland auch der Bund und die Kommunen um die Neue Musik verdient und verleihen den Städten dadurch ein besonderes Profil. In Berlin machen die  Inventionen seit 1982 mit einer kreativen, konzeptionellen Programmgestaltung auf sich aufmerksam. Die Inventionen gehen aus einer Kooperation zwischen dem Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austausch Diensts (DAAD) und dem elektronischen Studio der Technischen Universität (TU) Berlin hervor, sodass naturgemäß die DAAD-Gäste – häufig Komponisten und Künstler mit stark experimenteller Ausrichtung – sowie die elektro-akustischen Arbeiten des TU-Studios das Programm prägen.

Von besonderer Bedeutung sind in Berlin außerdem zwei Veranstaltungen der aus Geldern des Bundes finanzierten Berliner Festspiele, die sowohl die MaerzMusik als auch das Musikfest verantworten. Während das Musikfest vor allem Werke der gemäßigten Moderne vorstellt, hat sich MaerzMusik dem Genre-übergreifenden Experiment verpflichtet, sodass neben Orchester- und Ensemblewerken jede nur denkbare Form des Konzertanten, Theatralischen und Installativen zu hören ist – mit zahlreichen Exkursen in die Popkultur, den Jazz und die Weltmusik. Darüber hinaus verleihen vor allem die Länderschwerpunkte, die vom Baltikum bis nach Brasilien reichen, und die begrifflichen Topografien wie „Die Wüste“ oder „Das Sammeln“ dem Festival Profil. MaerzMusik löste 2002 die Musik-Biennale ab, die die musikalische Avantgarde in Ost-Berlin abgebildet hatte und nach der Wiedervereinigung von den Berliner Festspielen übernommen worden war.

Auch die sächsische Landeshauptstadt finanziert seit 1987 ein Festival. Die Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik nähern sich der musikalischen Avantgarde stets aus einem bestimmten Blickwinkel heraus: „Musik und Stadt“ oder „Musik und Film“ hießen in der Vergangenheit Themen, die nicht nur musikalisch, sondern auch im Rahmen eines Kolloquiums durchleuchtet werden. Das ausführende Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik ist heute Teil des Europäischen Zentrums der Künste Hellerau.

In Stuttgart genießt das Festival ECLAT seit 1980 überregionales Ansehen. Hier werden vor allem transdisziplinäre Ansätze der musikalischen Gegenwart vorgestellt und der jungen Generation Gehör verschafft. Eclat ist Teil des Stuttgarter Vereins Musik der Jahrhunderte, der außerdem eine Konzertreihe mit Musik der Moderne ausrichtet.

In Köln ist die seit 1997 auf Initiative der Stadt und der Philharmonie zurückgehende MusikTriennale außerordentlich erfolgreich, indem sie die Institutionen der ehemaligen „Hauptstadt der Neuen Musik“ bündelt, die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts mit Konzerten großer Orchester und namhafter Interpreten in ihren Mittelpunkt rückt und sie mit Werken der romantischen Tradition konfrontiert. Besondere Aufmerksamkeit schenkt man in Köln den großen Retrospektiven, die 2004 Luigi Nono, 2007 Luciano Berio galten.

Ganz aufs zeitgenössische Musiktheater fokussiert ist die auf eine Initiative Hans Werner Henzes zurückgehende Münchener Biennale. Seit 1988 werden hier die Möglichkeiten der Oper ausgelotet, wobei ihr Leiter Peter Ruzicka vor allem junge Komponisten für die Opernbühne begeistert; in den vergangenen Jahren zählten dazu etwa Mark André, Jörg Widmann, Enno Poppe, Klaus Lang und Carola Bauckholt.

Graswurzelmusik

Neben den großen, namhaften Festivals mit überregionaler Ausstrahlung, werden in Deutschland in fast jeder Stadt kleinere Festivals und Konzertreihen organisiert, die häufig vom Engagement der Veranstalter leben und die oft geringen Etats kreativ nutzen – von der Ostseebiennale für Klangkunst bis zum Ulmer Festival „neue musik im stadthaus“, von den „chiffren“ in Kiel bis zu den Weingartener Tagen für Neue Musik, von den „Brücken“ in Mecklenburg-Vorpommern bis zur Mülheimer „Utopie jetzt!“.

Hier setzt auch das Netzwerk Neue Musik der Bundeskulturstiftung an, die regionale Verbände zur Kooperation aufforderte und vor allem die Vermittlungsarbeit in den Mittelpunkt stellt. Von 2007 bis 2012 werden deutschlandweit fünfzehn Projekte gefördert, die neue Ansätze verfolgen und der Neuen Musik zu einer breiteren Öffentlichkeit verhelfen. Im Zuge des Netzwerks entstanden zum Beispiel die Festivals „MehrKlang“ in Freiburg oder „Mehr Musik!“ in Augsburg, die Konzertreihen „Alles im Fluss“ in Passau und „Musik 21 Niedersachsen“.

Förderung und gesellschaftlicher Anspruch

Die Vielzahl und die Breite der Neue-Musik-Veranstaltungen im deutschen Musikleben ist bemerkenswert und vor allem für das Publikum eine Bereicherung. Neue Musik ist heute eine Selbstverständlichkeit, vor der weder das Abonnement-Publikum, noch der Besucher eines Jugend- oder Familienkonzerts zurückschreckt. Ja, Neue Musik wird längst nicht mehr als bloße Notwendigkeit, sondern – wenn auch noch als ästhetischer Ausnahmezustand – mit Genuss und Lust gehört. Auch Festivals, die nicht primär der Neuen Musik gelten, das Beethovenfest Bonn, der Düsseldorfer Altstadtherbst, das Klavierfestivals Ruhr oder das Schleswig-Holstein Musikfestival räumen ihr einen festen Platz im Programm ein.

Die zahlreichen Förderungen, die in der Ausschüttung von insgesamt zwölf Millionen Euro im Rahmen des Netzwerks Neue Musik einen vorläufigen Höhepunkt findet, sind Ausdruck dieses gesellschaftlichen Bewusstseins. Gleichzeitig trifft die Politik des Sparens auch die Nischen des Kulturbetriebs, weshalb immer wieder Festivals eingestellt oder – wie die Berliner Inventionen der letzten Jahre – stark verkleinert werden müssen. Vor allem im Zuge der Popularisierung der Kulturwellen scheinen die Rundfunkanstalten ihr Engagement zurückzufahren. Radio Bremen stellte die renommierte Biennale „pro musica nova“ im Jahr 2000 ein, der RBB verabschiedete sich 2005 von der Konzertreihe „Musik der Gegenwart“ und der SWR zog sich 2005 vom ECLAT-Festival zurück.