Balkan-Beats und Gypsy-Mania
Hände hoch! Beine hoch! Und nicht vergessen: Gläser hoch! Wie der Roma-Sound in Deutschland einschlägt – Sekunden nur, bis die Turntables und die Tanzflächen rocken.

Alles begann vor dem Mauerfall mit einem Schlüsselerlebnis: Die Label-Gründer, die beiden Leipziger Helmut Neumann und Henry Ernst, bereisten vor über zwanzig Jahren auf eigene Faust Rumänien und strandeten in einem Nest, das auf keiner Karte verzeichnet war. Henry Ernst erinnerte sich in einem Rundfunk-Interview: „Jeder schleppte Instrumente an: völlig verbeulte, grüne, schimmelige, verfaulte Instrumente. Kleine Kinder, zahnlose alte Männer – bis da 20 bis 30 Leute waren“. Sie konnten keine Noten lesen, spielten nach Gefühl – aber ihre Kapriolen kommen bestens beim Publikum an. Die Rede ist von der inzwischen weltberühmten Brass Band Fanfare Ciocarlia, welche Asphalt Tango Records auf die Weltbühnen holte. Ohne ihre Entdeckung würden die Roma weiter auf lokalen Hochzeiten aufspielen von nachmittags bis vier Uhr nachts, wie in den Dörfern üblich.
Asphalt Tango Records organisiert mittlerweile Konzerttouren sowie CD- und Plattenveröffentlichungen vieler Roma-Künstler. Da ist etwa die originelle Gruppe Kal aus Belgrad, die mit Surf-Gitarren zu ihrem Gipsy Rockabilly-Stil fanden. Auch ein Event wie der „Balkan Brass Battle“, bei dem The Gypsy Queens and Kings gegen Boban Markovic antraten, der zusammen mit seinem Sohn Marko die Formation Boban i Marko Markovic Orkestar leitet, gehört zum Repertoire von Asphalt Tango Records. Goran Bregovic Filmmusik machte Emir Kusturicas Filme wie Time of the Gypsies von 1988 im Westen populär – wobei der französische Regisseur Tony Gatlif 1993 mit Latscho Dorm, dort gaben Dorado Schmitt und sein Cousin Tchavolo Schmitt mehrere Gypsy-Jazz Stücke zum Besten, die ernsthafteren Filme über Roma drehte.
Weiter, schneller, Gypsy-Groove!
Seit etwa zehn Jahren herrscht eine regelrechte „Gypsymania“ nicht nur auf den deutschen Tanzflächen – die Musik klingt volkstümlich, zugleich aber wild, authentisch und unberechenbar, also keine kitschige Folklore, kein gemütliches Schunkeln, sondern hoch das Bein und vor allem auch die Tassen. Darunter zu verstehen sind vor allem hybride neue Mixturen aus fantastischen Crossover-Operationen: Balkan Grooves, bulgarische Frauengesänge, Orient-Beats, Elektronik und sogar Gypsy-Punk wie ihn Gogol Bordello aus Manhattan repräsentiert. Bordello provoziert gekonnt mit seinen Auftritts-Performances, bei denen er Roma-Einflüsse auf der Basis von Akkordeon- und Violinen-Klängen mit Punk und Dub mixt.Roma aus Serbien, Mazedonien, Rumänien, Ungarn oder Tschechien mit all ihren feinen unterschiedlichen Musiktraditionen treiben überall in Europa ihre Stilblüten. In Deutschland sind die „Bucovina-Club“-Partys mit DJ Shantel alias Stefan Hantel berühmt und berüchtigt. Shantel, der einen Techno- und House-Musikhintergrund als DJ hat, mixt ekstatisch Gypsy-Swing, Polka-Beats, Klezmerklänge als auch Bauchtanz-Grooves – und das in Hochgeschwindigkeit. Für Balkan Beats auf der Tanzfläche stehen ebenso DJ Zigan Aldi mit türkischen Wurzeln oder der Bosnier Robert Soko, der aus Zenica nach Berlin kam, um sein Glück an den Turntables zu versuchen. Seinen Sound, den er mit Kroaten, Muslimen und Serben unter Einfluss der Roma-Musik formte, wurde Mitte der Neunzigerjahre zum Zeichen für den Widerstand gegen Völkerhass und nationalistische Kriegstreiberei.
Neben Asphalt Tango Records ist das Label Crammed Disk aus Belgien ein heißer Tipp für musikalische Leckerbissen wie das Mehrgenerationen-Ensemble Taraf de Heidouks. Die Virtuosen an der Geige und am Akkordeon setzen oft noch traditionelle Instrumente wie die Zimbel ein und haben eine Fangemeinde bis hin zu Yehudi Menuhin. Einen ganz anderen Weg beschreiten junge Rapper, so in Mannheim der Sinto Sin2 oder in Prag gipsy.cz, letztgenannter wurde mit einer Kombination aus Sprechgesang und Gipsy-Geigen zum Pionier des Romano-HipHop. Der Berliner Skandal-Rapper Sido dagegen wies seine Plattenfirma an, seinen Roma-Hintergrund nicht zu thematisieren.
Phänomen Gypsy-Swing?
Sintezza Dotschy Reinhardt begrüßt die enorme musikalische Vielfalt, auf eine Richtung will sie nicht festgelegt werden. Die in Berlin lebende Sängerin wird oft mitBossa-Nova-Star Astrud Gilberto verglichen; Dotschy liebt brasilianischen Jazz, wobei es für sie kein Widerspruch ist, offen zu sein für eine indische Instrumentierung ihrer CD-Veröffentlichung Pani Sindhu, auf der sie den Ursprüngen ihres Volkes nachspürt. Für Sinti, die seit 600 Jahren in Deutschland heimisch sind, sei die westliche Orientierung stark, also die am Jazz aus US-Amerika oder Frankreich, so Dotschy. Sie stammt aus der weit verzweigten Großfamilie des Jazz-Genies Django Reinhardt und unterstreicht, dass es Gypsy-Swing genau genommen gar nicht gibt: „Das ist eher eine Art, den Jazz zu spielen. Die Saiteninstrumente, das Perkussive, das ist vielleicht gypsy. Django nahm die Musette, zugleich war er Bach-Fan und brachte dies alles zusammen.“ Auch fänden sich bei Django Reinhardt Elemente des New Orleans Jazz. Diesen eigentümlichen Stil, mit schnellen Aufwärtsläufen und abrupten Tempo- wie Tonartwechseln entwickelte Django Reinhardt, weil er infolge einer Brandverletzung der linken Hand nur mit zwei Fingern spielen konnte.
Django hatte viele Nachahmer, Häns’ che Weiss oder Schnuckenack Reinhardt in den Achtzigern, aktuell das Rosenberg Trio aus Belgien oder den jungen Gitarrenvirtuosen Dicknu Schneeberger, geboren 1980. Dotschy selbst lernte das Gitarrespielen von Onkeln, Cousins und Musikern wie Bobby Falter oder Kitty Winter, die sich in ihrem Elternhaus die Klinke in die Hand gaben. Unterdrückt als Frau, wie das Klischee es vielleicht unterstellen mag, fühlte sie sich nie. Althergebrachte Rollenmodelle sieht Dotschy Reinhardt als hinterfragt an. Die 37-jährige: „Die jungen Sinti haben das Gefühl, sie können selbst etwas auf die Beine stellen, wie alle anderen auch. Über Youtube oder das Internet vermarkten sie sich, stellen Videos ein. Da sich jeder im Moment für Gypsy interessiert, brauchen sie die traditionellen Kontexte nicht mehr unbedingt. Es gibt eine neue Selbstverständlichkeit – ohne die eigene Identität zu verleugnen.“