Der Trend zum inländischen Mainstream setzt sich fort, Cro holt den deutschen Rap aus der Gangsta-Krise, Krautrock kommt nach Hause. International orientierte Newcomer finden ein Publikum jenseits des Ärmelkanals, während deutschsprachige Liedermacher ihre Stellung in der Popszene behaupten können. Und über allen wacht die GEMA – nicht zur allseitigen Zufriedenheit. Thomas Winkler blickt zurück auf ein ereignisreiches Jahr 2012.
Seeed | Foto: © Rocket Wink
Die Popmusik in Deutschland wird immer deutscher. Das gilt zumindest dann für das Jahr 2012, wenn man Erfolg vor allem als kommerziellen Erfolg begreift. Von den ersten 25 Alben der Jahrescharts stammen 14 von deutschen Bands oder Einzelkünstlern. Die absolute Spitze ist sogar fest in heimischer Hand. Unter den acht am besten verkauften Alben 2012 ist mit 21 von Adele ein einziges, auf dem nicht in deutscher Sprache gesungen oder gerappt wird.
Damit setzt sich ein Trend fort, der Jahre zuvor begann. Die Popmusik, eine der ersten Branchen, in der die Globalisierung sichtbar wurde, war in Deutschland – gerade im Vergleich zum Nachbarn Frankreich – immer stark geprägt von Importen aus den Popexportländern Großbritannien und USA. Doch aus einem Markt, der für anglo-amerikanische Popmusik immer offen war, ist einer geworden, der amerikanische Superstars wie Taylor Swift weitgehend ignoriert und britische Senkrechtstarter wie Mumford & Sons immer noch als Geheimtipp handelt. Stattdessen beherrschen altgediente deutsche Stars ihre Heimat: Udo Lindenberg, der einst bahnbrechenden Pionierarbeit leistete, als er in der Siebzigerjahren entscheidend mithalf Deutsch als Popsprache zu entwickeln, setzte sein Comeback fort mit einer erfolgreichen Tournee und dem Album MTV Unplugged – Live aus dem Atlantic.
Die Ärzte | Foto: © Nela König
Längst in derselben Liga spielen Die Ärzte aus Berlin und Die Toten Hosen aus Düsseldorf. Beide Bands, die ihre Wurzeln im Punk haben, feierten 2012 ihr 30-jähriges Bestehen mit erfolgreichen Alben – und mussten jede auf ihre Art zugeben, dass sie mittlerweile fest im Rock-Establishment etabliert sind. Die Ärzte gingen damit erwartbar ironisch um und fragten gleich zum Einstieg von auch sich selbst: Ist das noch Punkrock?. Die ernüchternde Antwort: „Ich glaube nicht.“
Die Toten Hosen dagegen ignorierten diese Frage einfach und gaben sich auf Ballast der Republik so rebellisch und kämpferisch wie lange nicht. Vom ihrem Publikum wurden sie dafür umso heißer geliebt.
Das unheimlich erfolgreiche Phänomen Unheilig
Nur ein einziges Album war kommerziell noch erfolgreicher als das der Toten Hosen:
Lichter der Stadt von Unheilig. Während die Kritiker sich lustig machten sprachen die Lieder des Mannes, der sich hinter dem Pseudonym Der Graf versteckt, Millionen aus dem Herzen mit Texten, die so allgemein gehalten sind, dass sie alles und nichts bedeuten können. Der Graf spickt seine Reime mit Begriffen aus dem Setzkasten der Romantik wie Freiheit oder Sehnsucht, er träumt von besseren, meist vergangenen Zeiten. So unverbindlich wie die Poesie von Zeitungshoroskopen sind diese Lieder und gern unterlegt mit elektronischen Marschrhythmen. Noch öfter aber sind es schmuseweiche Balladen, die mit viel Hall ausgepolstert sind. Dieser Hall umfängt alles in einer großen Versöhnung und degradiert sogar wütend-wuchtige Rammstein-Riffs zu Kinderlied-Harmonien.
Die beiden Aufsteiger des Jahres: Cro und Zedd
Cro | Foto: © Delia Baum
Doch der Aufsteiger des Jahres 2012 heißt Cro. Der Rapper aus Stuttgart zog den deutschen Hip-Hop endgültig aus der Krise, in den ihn eine Welle zweitklassiger Gangsta-Rapper geführt hatten. Rap spielte in Deutschland keine kommerzielle Rolle mehr, bevor Casper und Marteria 2011 ein neues, junges Publikum begeistern konnten, die sich wegen martialischer, frauenfeindlicher und homophober Texte vom Hip-Hop angewendet hatten. Cro, der sein Gesicht nicht zufällig hinter einer niedlichen Panda-Maske versteckte, holte den Hip-Hop aus dem Ghetto und übersetzte die Lebenswirklichkeit der gutbürgerlichen Jugend in Sprechgesang. In seinem Schatten fanden auch weitere Formationen wie Die Orsons, die wenige Jahre zuvor noch als „Studenten-Rapper“ geschmäht worden wären, ein Publikum.
Offensichtlich hatte der Gangsta-Rap seine Schockwirkung verloren, die Gesellschaft, vor allem die verunsicherte Mittelschicht, war in den Zeiten der Euro-Krise auf Restauration aus. Cro und seinen Kollegen gelang es, über Besitzstandswahrung zu rappen wie über ein cooles Statussymbol: „Diese Welt ist geil, denn ich hab alles, was ich brauch“, hieß es in einem seiner Raps, „nein, ich will hier nie wieder wieder raus.“
Der zweite große Newcomer aus Deutschland blieb auch im Jahr 2012 in Deutschland weitgehend unbekannt. Zedd füllte in den USA die großen Hallen, arbeitete mit Lady Gaga zusammen und lächelte in US-amerikanischen Werbespots. In seiner Heimat aber kann der 23-Jährige aus Kaiserslautern, obwohl die Tracks seines Debütalbums
Clarity durch die Clubs donnern, noch unerkannt über die Straße gehen, ist er doch der einzige Vertreter der sogenannten Electronic Dance Music (EDM), eines typisch amerikanischen Phänomens, in dem Rave und Rock’n’Roll zusammenfinden.
Gegenreaktion gen Internationalität
Während der Mainstream – womöglich ja als Gegenreaktion zur Globalisierung anderer Lebensbereiche – immer deutscher wurde, orientierten sich hoffnungsvolle Newcomer und der Underground verstärkt an internationalen Entwürfen. Vor allem Sizarr schlugen große Wellen: Die dreiköpfige Boyband aus aus Landau in der Pfalz wurde vom amerikanischen Produzenten Danger Mouse, dem womöglich kreativsten Kopf der Jetztzeit, zu seiner Vorband gekürt, als er mit Broken Bells auf Tour ging, und die britische Tageszeitung
Guardian, geschätzt für ihre Pop-Kompetenz, bescheinigte Sizarr bereits „
a very distinctive style“, ein markantes, einzigartiges Klangbild.
Ebenfalls eine gewisse Aufmerksamkeit in England erregten Me & My Drummer. Zu Recht: Das in Berlin beheimatete Duo erschuf eine sehr eigene Welt, in der stahlblaue Electro-Beats eine harmonische Beziehung eingehen mit modischen Synthies und theatralischen Gesangslinien. Auch das nunmehr dritte Album des musikalischen Einzelgängers Konstantin Gropper unter seinem Pseudonym Get Well Soon orientierte sich mit seinen englischsprachigen Songminiaturen und seiner barocken Vorstellung von elektronischer Kammermusik an Vorbildern aus der goldenen Zeit britischer Popmusik.
Auch die deutsche Pophistorie wurde wiederentdeckt: Der Krautrock, bislang eher in Großbritannien als originärer deutscher Beitrag zur Popgeschichte gewürdigt, feierte nun in seiner Heimat ein Revival. Labels wie Bureau B oder Grönland bringen schon seit Jahren liebevoll ausgestattete Wiederveröffentlichungen der Klassiker des Genres heraus und widmen sich nun auch den Werken längst vergessener Nebenfiguren. Alte Helden wie Eloy sind wieder auf Tour, während junge Bands wie Stabil Elite versuchen, eine aktuelle Variante des Krautrock zu entwickeln, und Camera ganze Nächte in Berliner U-Bahnhöfen improvisieren, als wollten sie in ihren Instrumentals die goldenen Zeiten von Can oder Amon Düül heraufbeschwören.
Pop, Politik und die deutsche Sprache
Währenddessen verfestigte sich aber auch weiter die Selbst-verständlichkeit, mit der Deutsch als Popsprache verwendet wird. Kettcar, Bernadette La Hengst oder Brockdorff Klang Labor veröffentlichten 2012 Alben, in denen auf zum Teil erstaunlichem intellektuellem Niveau gesellschaftliche Entwicklungen und die politische Agenda reflektiert werden. Diesen Ansatz verknüpfen jüngere Bands wie Kraftklub oder Frittenbude mit Beats aus Hip-Hop oder Electro und politisieren damit ein jüngeres Publikum. Selbst der radikal linke Punk sendete unerwartete Lebenszeichen: Ecke Schönhauser verwechselten in ihrem Schrammelgitarrensongs zwar bisweilen den persönlichen Schmerz mit dem Leiden an der Welt, aber dafür meldeten sich die Altmeister Slime zurück und vertonten Texte des 1934 von den Nazis ermordeten Anarchisten und Dichters Erich Mühsam.
Auch die neue Generation deutscher Liedermacher konnte sich trotz der Häme, die ihnen vor allem aus dem Feuilleton entgegenschlug, behaupten: Die neuen Milden Philipp Poisel, Tim Bendzko oder Max Prosa versorgten ein dankbares, aber erstaunlich jugendliches Publikum mit unironischer Innerlichkeit an der Grenze zum Pathos. Doch dass so eine Reise ins eigene Ich nicht in biederem Wohlgefallen enden muss, bewies Maike Rosa Vogel: Die Berliner Liedermacherin legte auf ihrem dritten Album
Fünf Minuten ihre Gefühle wieder so hemmungslos offen, dass in ihrer Stimme das Private tatsächlich politisch wurde.
Im Song
So Leute wie ich thematisierte sie ihre Erfahrungen als Hartz-IV-Bezieherin – und wurde damit zur ersten Musikerin, die die immer prekärer werdenden Arbeitsbedingungen ihres Berufsstandes künstlerisch verarbeitete.
Im Projekt Kid Kopphausen fanden zwei Generationen Singer/Songwriter zusammen: Das gemeinsame Album des 33-jährigen Gisbert zu Knyphausen und des 47-jährigen Nils Koppruch zeigte, dass die neuen Liedermacher nicht aus dem Nichts kamen, auch wenn Koppruch als Solist oder früher mit seiner Band Fink niemals den Erfolg hatte, den er für seine lakonischen, hellsichtigen Lieder verdient gehabt hätte. Erst die Zusammenarbeit mit dem jüngeren zu Knyphausen ließ eine ganze Generation einen der besten deutschen Songschreiber neu entdecken. Dieser zweite Frühling aber endete tragisch, als Koppruch völlig überraschend im Oktober verstarb.
Auf der Bühne wird das Geld verdient
In den Nachrufen auf Nils Koppruch wurden nicht nur seine Leistungen als Musiker gewürdigt, sondern auch stets darauf verwiesen, dass er seinen Lebensunterhalt zum großen Teil als Maler bestreiten musste. Die Absatzkrise der Musikindustrie führte auch in Deutschland dazu, dass das Live-Geschäft immer wichtiger wurde. Das nutzte vor allem eine Band wie Deichkind, die nicht nur geschickt pumpende Techno-Beats und Glam-Rock an der Grenze zum Kabarett verschmolz, sondern vor allem mit einer durchchoreografierten und üppig ausgestatteten Bühnenshow zum Phänomen wurde – und auf den großen Festivals des Sommers den internationalen Superstars Konkurrenz machte. Auch andere Formationen wie Seeed, denen nach dem Ende der Solo-Karriere ihres Masterminds Peter Fox ein formidables Comeback gelang, oder Bonaparte setzen vor allem auf ihre Live-Qualitäten und aufwendige Auftritte.
Viele der Orte, an denen diese Auftritte stattfinden, fürchteten 2012 um ihre Existenz, als die GEMA eine dramatische Erhöhung ihrer Tarife ankündigte. Manche Clubs errechneten, sie müssten künftig 1.500 Prozent mehr an die Verwertungsgesellschaft zahlen als bislang. Aber auch Konzertveranstalter und selbst Musiker, die eigentlich von den Ausschüttungen der GEMA profitieren müssten, gingen auf die Straße, um gegen die altertümlichen Strukturen und wenig zeitgemäßen Tarifkriterien zu protestieren. Eine ganze Szene fürchtete um ihre Infrastruktur. Mittlerweile scheinen die schlimmsten Szenarien abgewendet: Die Angelegenheit liegt vor einem Vermittlungsausschuss, erst einmal haben sich die Kontrahenten auf ein Moratorium geeinigt.