Pop 2013
Ein Jahr (Es geht voran)

Die Heiterkeit
Foto: Conni Winter © Die Heiterkeit/Promo

Die deutsche Musikwirtschaft erkennt zunehmend die Zeichen der Zeit, der Anteil deutscher Produktionen in den Charts steigt weiter an, Hip-Hop erlebt ein ungebrochenes Revival, kleine, flexible Firmen trotzen der Berlin-Zentrierung: Geschäftlich war 2013 ein überwiegend gutes Jahr. Aber was ist mit der gesellschaftlichen Dimension des Pop?

Vor einigen Jahren, die Älteren werden sich erinnern, gab es eine unselige Debatte über eine Quote, die den Anteil deutscher Pop-Produktionen im Radio erhöhen sollte. Der Deutsche Rock- und Popmusikerverband brachte die Initiative auf den Weg, Heinz-Rudolf Kunze, Reinhard Mey und andere sekundierten, die CSU forderte französische Verhältnisse. Es wurde gestritten und diskutiert, der Deutsche Bundestag empfahl die Quote, delegierte die endgültige Entscheidung indes an die Länder. Irgendwann verebbte die einigermaßen piefige und sehr deutsche Diskussion, wohl auch, weil nicht wenige der ursprünglichen Befürworter ihr Votum wegen einsetzender Nationalismusvorwürfe zurückgezogen hatten.

Im vergangenen Jahr hatte sich die Debatte nun endgültig ganz von selbst erledigt. Wie bereits im Vorjahr vermittelten die Media Control Charts auch 2013 nicht im Geringsten den Eindruck jener angloamerikanischen Dominanz, durch welche die Befürworter der Quote einst die deutsche Pop-Produktion gefährdet sahen: Das erfolgreichste Album des Jahres war Helene Fischers Farbenspiel, Andrea Berg und Santiano folgten auf dem Fuße; der Folksmusik-Veteran Heino schmiss sich mit einer Art adaptiertem Rick-Rubin-Johnny-Cash-Prinzip an die junge Zielgruppe heran. Insgesamt waren mehr als die Hälfte der kommerziell erfolgreichsten Alben in den Charts deutscher Provenienz, in den Top-fünf der erfolgreichsten Alben fand sich mit Robbie Williams gar nur ein ausländischer Künstler.

Hip-Hop-Renaissance ungebrochen

Nun sind Schlagerpop und Mittelalterrock in diesem Land traditionell umsatzstarke Genres, doch es gab auch eine Überraschung: Einen nicht unerheblichen Anteil am kommerziell sehr guten Abschneiden deutscher Produktionen hatte die ungebrochene Vitalität eines vermeintlich totgesagten Genres. Deutscher Rap war 2013 überall. Bisweilen konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass alles, was halbwegs unfallfrei einen Sechzehner skandieren kann, auf Anhieb mit goldenen Platten beworfen wurde. Nie zuvor hatten wir etwa Namen wie Genetikk, Alligatoah oder RAF 3.0 gehört – 2013 dominierten sie alle die deutschen Charts.

Das Interessanteste an dieser Entwicklung: Hip-Hop ist heute so vital und breit gefächert wie noch nie. Alle Sub-Genres scheinen gleichzeitig zu funktionieren, Straßen- und „Studentenrap“, Veteranen und Newcomer, Old School und New School. So rundete der eher feingeistige Neunziger-Überlebende Max Herre sein Comeback mit einer Unplugged-Platte ab – und hatte damit ebenso Anteil am boomenden Rap-Revival wie Grim 104 und Prinz Pi, die altgedienten „Straßenrapper“ Sido und Bushido sowie deren jüngere Wiedergänger Haftbefehl oder Kollegah & Farid Bang.

Die Omnipräsenz des an sich begabten, aber gnadenlos verheizten Teenie-Rappers Cro sowie der Erfolg des sogenannten MC Fitti könnten indes ein Indiz dafür sein, dass die aufgeblähte Bewegung schon wieder am Scheitelpunkt steht. Insbesondere Fitti wirkt wie eine von Marketingstrategen erdachte Karikatur auf den Hipster-Rapper moderner Prägung, der alle und alles mit einbezieht und von jedem gut gefunden wird. Interessant ist das sogenannte YouTube-Phänomen vor allem aus phänomenologischer Sicht: niemand interessiert sich für die Musik des vollbärtigen Wahlberliners, aber man sieht ihn in jeder Talkshow und in jedem Werbespot und er hat immer gute Laune.

Blut und Boden

Viel wichtiger als Chart-Positionen und Verkaufszahlen ist aber natürlich die Frage, was die Musik all dieser Leute über das Land aussagt, in dem wir leben – welche Geschichten erzählt werden und in welcher Weise politische und gesellschaftliche Prozesse reflektiert werden. Casper ließ mit dem Album Hinterland die Grenzen des Rap-Genres hinter sich.
Casper: Alles endet

Ganz ähnlich wie Thees Uhlmann auf seinem sinnigerweise #2 betitelten zweiten Soloalbum, setzt sich der Bielefelder in einer Weise mit Heimat auseinander, wie das bislang eher von amerikanischen Musikern wie Bruce Springsteen bekannt war. So kreieren Casper und Thees Uhlmann eine Art neues deutsches Heimatlied, nicht zuletzt indem sie die Tristesse der Provinz und die Sehnsucht nach einem besseren Leben in einer besseren Stadt beschwören, dieser Ur-Sehnsucht des Rock’n’Roll jedoch Momente heimeliger Nostalgie abgewinnen.

Dass die deutschen „Wastelands“ allerdings bei weitem nicht nur aus Dorfpunk-Charme, Jugendheim-Nostalgie und grünen Wiesen bestehen, sondern nicht zuletzt ein Hort ganz realer Probleme und politischer Verwirrungen sind, verdeutlichte bereits im Frühjahr die heftig geführte Debatte um die vor allem in ländlichen Gebieten goutierte Blut-und-Boden-Band Frei.Wild.

Obschon aus Südtirol stammend, waren Frei.Wild 2013 natürlich ein eindeutig deutsches Thema. Die immens erfolgreiche Gruppe stilisiert sich als Opfer und Vorredner des neuen „Man-wird-doch-wohl-noch-sagen-dürfen-Populismus“ von rechts. Hiermit besetzte sie, noch vor deren für 2014 angekündigtem Comeback, endgültig die freigewordene „Böhse-Onkelz-Nische“ – und erreichte mehrfach Platz eins der Charts. Die bei der entsprechenden Klientel nötige Authentizität verdankt die Band nicht zuletzt der Vergangenheit ihres Sängers Philipp Burger als Sänger der Rechtsrockband Kaiserjäger.

Vor der Echo-Verleihung im März protestierten dann einige Künstler gegen die Nominierung von Frei.Wild. Kraftklub sagten ihre Teilnahme am Echo gar ab. Daraufhin wurde die Frei.Wild-Nominierung zurückgezogen, ein Shitstorm entbrannte im Internet, Frei.Wild nutzten die Gelegenheit, sich abermals als Märtyrer zu inszenieren.

Pop gleich Protest?

Jene Debatte im Vorfeld der Echo-Verleihung ist nicht zuletzt deshalb in Erinnerung geblieben, weil es im Pop immer seltener überhaupt irgendwelche Debatten oder eine klar erkennbare Form von Haltung gibt. Der internationalen Entwicklung folgend, scheint Pop auch in Deutschland als Protestmedium ausgedient zu haben. Dabei liegen die Themen für die entsprechenden Lieder eigentlich auf der Straße. Aber kaum einer fand oder suchte im vergangenen Jahr Antworten auf NSA und NSU, auf Eurokrise oder das zunehmende gesellschaftliche Ungleichgewicht in diesem Land. Stattdessen werden überwiegend persönliche Befindlichkeiten verhandelt, größere Zusammenhänge scheinen für viele uninteressant zu sein. Ein Umstand, dessen Ursachen nicht zuletzt in Resignation, einem Rückzug ins Private sowie Machtlosigkeit und Politikverdrossenheit liegen dürften – und hier war Pop dann eben doch wieder ein Spiegel der Gesellschaft.

Dass es auch anders geht, beweist eine neue deutsche Graswurzel-Indie-Szene, die sich über 20 Jahre nach dem Beginn der sogenannten Hamburger Schule im Untergrund formiert hat. So formulieren sich musikalisch überwiegend an den Altvorderen orientierende Bands wie Trümmer, die Nerven, Messer oder die Heiterkeit direkt oder im Subtext erstmals wieder ein tendenzielles Unbehagen mit den Verhältnissen in diesem Land. Obschon aus verschiedenen Städten kommend, bedienen sich alle genannten Bands ähnlicher musikalischer Ausdrucksmittel. Während die Vorbilder erwachsen werden – Tocotronic feierten 2013 ihr 20. Jubiläum mit einem Doppelalbum, auf dem sie sich der Körperlichkeit zuwendeten, die Goldenen Zitronen profilierten sich auf einem der besten Alben ihrer Karriere abermals als Wortführer der Hamburger Protestszene –, formierte sich die „Erbengeneration“ zu einer interessanten neue Diskurspop-Szene im Untergrund.
Messer: „Die kapieren nicht“

Der Kampf um die Städte

Überhaupt, der Untergrund. Es ist natürlich eine Binse, aber für den Bestand einer vielfältigen und vitalen Popszene ist eine tragfähige Infrastruktur mit entsprechenden Rahmenbedingungen unbedingt zwingende Voraussetzung. Und die wichtigste Basis für einen solchen Unterbau ist auch in digitalen Zeiten immer noch eine dichte und lebendige Clublandschaft. Durch die Risikobereitschaft jener Betreiber, die an Hunderten Tagen im Jahr kleine Konzerte ohne Profit veranstalten, erhält der Nachwuchs überhaupt erst die Chance, sich ein Publikum zu erspielen und Erfahrungen zu sammeln. Diesbezüglich gab es 2013 indes wenig Positives zu vermelden. Jahrelang hatten sich Clubs wie das Hamburger Molotow, das Münchner Atomic Café oder das Chemnitzer Atomino mit hoher Risikobereitschaft und Leidenschaft um eine funktionierende deutsche Indie-Szene verdient gemacht, 2013 waren all diese Clubs akut von der Schließung bedroht und sind das teilweise noch.

Dem entgegen standen der im Rahmen des Reeperbahnfestivals erstmals verliehene, insgesamt mit einer Million Euro dotierte „Spielstättenprogrammpreis Rock, Pop, Jazz“, den Kulturstaatsminister Bernd Neumann unter anderem dem Betreiber des Atomic Cafés überreichte, sowie die vorläufige Einigung zwischen lokalen Musikveranstaltern und der GEMA, nachdem deren geplante Tariferhöhung noch vor nicht allzu langer Zeit den Fortbestand großer Teile der deutschen Clublandschaft gefährdete. Beides sind wichtige Signale in einer Zeit, in der der Kampf um die urbanen Zentren sich verschärft und kommerzielle Interessen immer häufiger kulturelle Vielfalt zu verdrängen drohen.

Big in Berlin?

Ohne eine vielfältige Clublandschaft in diesem Land hätte ein weiteres großes Jubiläum im vergangenen Jahr zum Beispiel gar nicht erst begangen werden können. Das unerwartete Comeback von David Bowie, der bekanntermaßen einige Jahre in der Stadt gewohnt hatte, eröffnete bereits im Januar die inoffiziellen Berlin-Festspielwochen. Bis in den Sommer hinein wurde auf Basis diverser Jubiläen und entsprechender Buchveröffentlichung sowohl an das alte Westberlin vor der Wende sowie an die jungen Tage des „neuen“ Techno-Berlins nach der Wiedervereinigung erinnert. Vor allem Letzteres eine Zeit des wichtigsten popkulturellen Aufbruchs der letzten 30 Jahre, der die Stadt bis heute ihre popkulturelle Relevanz und die damit einhergehende Anziehungskraft für Künstler und Musiker aus allen Ecken der Welt verdankt.

Nicht zuletzt den sogenannten Expats ist Berlins Stellung als wichtigstes Pop-Zentrum der Republik geschuldet. Und so kamen aus der Hauptstadt 2013 unter anderem interessante und musikalisch vielfältige Alben von Moderat und dem aus der Schweiz stammenden, hochcharmanten Indie-Schlagerpop-Sänger Dagobert. Die Einrichtung des Musicboards Berlins, einer bundesweit einmaligen, mit Senatsmitteln ausgestatten Einrichtung zur Förderung der vielfältigen Szene, ist vor diesem Hintergrund als Beleg zu betrachten, dass der Berliner Senat zu begreifen beginnt, dass die kulturellen Ressourcen der Stadt einen

Gutteil ihrer Attraktivität ausmachen. Die vielleicht beste Nachricht ist aber, dass sich trotz der vielbeschworenen Berlin-Zentrierung überall in der Republik vielfältige Szenen behaupten oder bilden konnten. Insbesondere Hamburg trotzt der jahrelangen Abwanderung zentraler kreativer Kräfte mit einer überaus lebendigen und vielseitigen Szene, die im abgelaufenen Jahr unter anderem hervorragende Alben von Pantha Du Prince, DJ Koze und der Neuentdeckung Helena Hauff hervorbrachte.

Die meisten dieser Leute verdanken ihren Erfolg dem zunehmend typischen Geschäftsmodell der Musikwirtschaft: kleine kreative Zellen haben sich hochflexibel auf die Realitäten der veränderten Branche eingestellt, decken in 360-Grad-Manier alle Bereiche des Geschäfts ab und bilden je nach Bedarf Schnittstellen zum etablierten Majorsystem.

Ein Modell, das genreübergreifend funktioniert, wie von Nuclear Blast (Metal) über Chimperator (vornehmlich Rap) bis hin zu altgedienten Indie-Firmen wie Buback landauf, landab bewiesen wird.

Es sind solche Strukturen in Verbindung mit den Möglichkeiten des Internets, die den Überraschungserfolg einer Band wie Milky Chance aus Kassel überhaupt erst möglich machen. Und so wird 2013 eventuell als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem endgültig Antworten auf die sogenannte Krise gefunden wurden – und das ist doch mal eine gute Nachricht!