Die deutsche Popmusik boomt. Im eigenen Land ist sie – rein statistisch betrachtet – erfolgreicher denn je. Von 29,5 Prozent im Jahre 2001 auf zuletzt 49 Prozent stieg der Anteil der sogenannten „nationalen Produktionen“ in den offiziellen Album-Verkaufslisten.
Deichkind | Deichkind
Nachdem der hiesige Musikmarkt jahrzehntelang sehr offen für internationale Trends war und noch 2004 im Bundestag über eine Radioquote zur Förderung des heimischen Liedguts debattiert wurde, gedeiht zumindest das Mainstream-Segment mittlerweile ohne flankierende Maßnahmen der Politik. „Der Blick in die Charts zeigt, dass Deutsch angesagt ist und sich die neuen und etablierten deutschen Künstler gegenseitig beflügeln“, deutet Florian Drücke, der Geschäftsführer des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI) die Entwicklung für 2011. Die Branche kann durchaus zufrieden sein. Im Gegensatz zum kurzen Aufflackern der Neuen Deutschen Welle in den 1980er-Jahren werden die Erfolge von verschiedenen Genres getragen. Besonders die Formel des modernen Liebesliedes sorgt dabei für immer neue Deutschpop-Rekorde. Rosenstolz, Xavier Naidoo oder auch Annette Humpe für Ich&Ich haben auf ihre Weise bestimmte Kompositionsmuster perfektioniert: moderne Beats und gefühlige, deutsche Texte, die wie geschaffen sind für Radioprogramme und die Fan-Foren auf Facebook.
Die Milden und die Knorrigen
Tim Bendzko | Foto: © Alexander Gnädinger 2011
Dieses Prinzip der wohlklingenden Innerlichkeit krempelte 2011 das klassische Liedermacher-Format um. Der Ludwigsburger Gitarrenpoet Philipp Poisel, der noch 2008 durch kleine Provinzclubs tingelte, konnte seinen
Seerosenteich auf Festivalbühnen vor 10.000 ergriffenen Zuhörern spielen. Und Tim Bendzko verkaufte gar 2011 vom Midtempo-Song
Nur noch kurz die Welt retten 300.000 Exemplare. Mit seinem vergrübelten Albumtitel
Wenn Worte meine Sprache wären hat Bendzko das inoffizielle Motto dieser Welle mild tönender Talente geschaffen. Musiker wie Max Prosa, Tiemo Hauer oder Andreas Bourani, alle Anfang Zwanzig, spielen Edelmusik für Teenager, die auch Eltern gefällt. Eine neue Liedkultur, die sich beflissen der Techniken der handgemachten Soulballade bedient. Das Piano oder die Gitarre steht immer bereit, wenn irgendwo die Abgründe des Alltags drohen. „Ich stehe einsam an den Gleisen, sehe euch von Weitem winken. Seh’ im Ozean der Melancholie, ein kleines Schiffchen sinken“, heißt es in Tiemo Hauers Song
Losgelassen.
Während die Generation der neuen Milden die Ballade für sich wiederentdeckt hat, beschreitet Songschreiber Thees Uhlmann mit seinem Soloalbum andere Wege. Seine in der Niedersächsischen Provinz verorteten Stücke bedienen sich zwar ebenfalls einer persönlichen Sprache. Doch der Sänger der Band Tomte orientiert sich dabei an der knorrigen Heimatverbundenheit amerikanischer Rocker und verzichtet auf bisweilen seichte Lyrik. Auch Uhlmanns Album sprang 2011 kurz in die Charts, doch in diesem Umfeld setzen gewöhnlich kleinere Auflagen und Clubtourneen den Maßstab. Gemeinsam mit Kettcar-Frontmann Marcus Wiebusch hatte Uhlmann 2002 das Independent-Label Grand Hotel van Cleef in Hamburg gegründet, das neben den eigenen Produktionen auch Solisten von Bernd Begemann bis Tim Neuhaus veröffentlicht. Ganz offensichtlich sind deren Texte zu sperrig und verschroben, die Musik zu karg und eigenwillig, um ebenfalls kommerziell durchzustarten.
Dass es durchaus Gegenentwürfe zur allgegenwärtigen Alltags-Poesie auf Deutsch gibt, zeigt der stille Aufstieg des Frauen-Duos Boy. Mit englischen Texten und den feinen Arrangements ihres Albums
Mutual Friends füllen Valeska Steiner und Sonja Glass die mittelgroßen Clubs. Das Video zur Single
Little Numbers spielt in den Straßen von Barcelona und auf dem Eurosonic-Festival im holländischen Groningen bekommen Boy den European Border Breakers Award verliehen. Ihre federleichten Folk-Pop-Songs stehen vor einer internationalen Karriere.
Künstlerlabel als Alternative
Gerade Künstler-geführte Labels sind zur Alternative zu den gängigen Erfolgsmustern geworden. Das Berliner Label Staatsakt bietet zum Beispiel mit Ja, Panik, Die Türen, Bonaparte, dem Schwesternduo Jolly Goods, Frank Spilker oder Christiane Rösinger eine Heimat für ganz unterschiedliche Individualisten. Mit
Rentner und Studenten hat die Band von Staatsakt-Labelchef Maurice Summen Die Türen den ironisch-diskursiven Beitrag zum Jahr der „Occupy“-Protestkultur geschrieben. Im Video läuft ein gelangweilter Demonstrationszug mit leeren, weißen Plakaten durch die Straßen von Prenzlauer Berg. „Wer morgens länger schläft, hält abends länger aus – Das Gegenteil von gut, ist gut gelaunt“. Botschaften, die eine Brücke zur Tunix-Bewegung der Siebziger schlagen.
Auch die aus Österreich nach Berlin umgesiedelte Band Ja, Panik um Sänger Andreas Spechtl beschritt mit dem Album
DMD KIU LIDT eigene Wege. Statt Biedermeier-Liebesglück propagieren sie im deutsch-englischen Sprachmix Widerstand und Zerstörung ("Suicide is love, is passion"). Die Zusammenarbeit mit Hans Unstern und Christine Rösinger sorgte für künstlerische Reflektion, ihre Energie ziehen sie aus dem musikalischen Freiraum zwischen No Wave und New Wave.
Der Gangster hat Pause
Casper | Foto: © Andreas Janetschko Casper
Hip-Hop stand im Zeichen des Wandels. Die Nummer-Eins-Platzierung des Albums
XOXO von Casper markierte den Perspektivwechsel. Mit seiner Sozialisation zwischen Hardcore und The Smiths brachte der Rapper den Rock-Ansatz zurück ins Genre. Zu schroffen Gitarren-Samples schreit Casper Selbstzweifel und Ängste heraus und setzt sich damit von den derben Wortspielen der reimenden Macho-Kollegen ab: „Der Druck steigt, Atem blockiert, wir scheitern immer schöner, sind Versager mit Stil, haben nicht viel“ (
Der Druck steigt). Die Dominanz des deutschen Gangster-Raps ist jedenfalls gebrochen. Zumal nach dem Ende der Berliner Labels Aggro Berlin und Royal Bunker kein Zentrum für dieses Genre mehr existiert.
Die einstigen Vorzeige-Provokateure Sido und Bushido wiederum hatten ihre Zukunft längst im Showbusiness gesucht. Der Film
Blutzbrüdaz zeigt Sidos Anfänge in einem humorigen Blick zurück.
23, das seltsam uninspirierte Kooperations-Album der beiden, bietet kaum Innovationen bei Beats und Reimen. Nicht nur die Kooperation mit Peter Maffay beim Song
Erwachsen Sein klingt wie eine Anbiederung an das Pop-Lager. Gerade der Reifeprozess im Hip-Hop bedeutet eine schwierige künstlerische Gratwanderung: Während Samy Deluxe im Zuge der Veröffentlichung des Albums
SchwarzWeiß sich kritisch mit den Gangster-Attitüden seiner jüngeren Kollegen auseinandergesetzt hat, wehrt sich Prinz Pi in
Rebell ohne Grund gegen Medienklischees über die Hip-Hop-Szene (
Beweis dagegen).
Alle Macht der Bühne
K.I.Z. | Foto: © Bernd Jaworek K.I.Z.
Eine andere Möglichkeit den Genregrenzen zu entkommen, bildet das Live-Spektakel. Die Berliner Rap-Truppe K.I.Z. verschärfte als erfolgreichste Gruppe des abgewickelten Hip-Hop-Labels Royal Bunker mit ihrem Album
Urlaub fürs Gehirn noch einmal ihren Weg mit zynischen Texten zu spielen. Politik, Gesellschaft und Hip-Hop-Attitüden werden in einem wilden Kanon verächtlich gemacht: „Vierhundert Jahre Sklaverei war genug Fitnesstraining, Geh' ein Busfahrer klatschen, um mein Frust abzulassen“. K.I.Z. verstehen es genauso wie Deichkind, von denen 2012 mit
Befehl von Unten im Februar 2012 ein neues Album erschienen ist, ihre überbordenden Shows zu einem Wechselspiel von Hip-Hop mit elektronischen Elementen zu machen.
Auf ein kollektives Ausrasten gemeinsam mit dem Publikum setzen auch die Bands Frittenbude oder Egotronic, die gemeinsam mit Click Click Decker und Bratze beim Electro-Punk orientierten Label Audiolith aus Hamburg eine Art autonome Gemeinschaft als Spaß-Guerilla bilden. Den umgekehrten Weg wählte die junge Chemnitzer Band Kraftklub mit ihrem munter loskrachenden Debüt
Mit K: Sie versetzten ihren Garagenrock mit Rap-Reimen und begeisterten mit schweißtreibende Live-Shows: „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler“, skandieren Kraftklub. Das Klischee von der abgehängten Ossi-Jugend wird auf die Spitze getrieben – frei nach dem
Loser-Original von Beck.
Kraut und Blech
Stabil Elite | Foto: © Alexander Romey
Innovationen im Soundbereich blieben der Avantgarde vorbehalten. Mit Stabil Elite, Durchschnittsalter 23, sorgte eine Nachwuchsband aus dem Krautrock-Umfeld für federnde Rhythmus- und Klangstrukturen. Ihr Retro-Futurismus mit Songtiteln wie
Metall auf Beton oder
Endecomputer hat seine Ursprünge im „Salon des Amateurs“ in der Düsseldorfer Kunsthalle, der von Kreidler-Mitglied Detlef Weinrich geführt wird. Im Spannungsfeld zwischen DJ-Kultur und drei Jahrzehnten rheinischer Elektronikkultur von Neu! bis DAF setzen Stabil Elite mit ihrem Album
Douze Pouze auf ein Gebräu hingetupfter Synthieflächen und zickiger Gitarrentöne.
Eine besondere Form von regionalem Eklektizismus ist der World-Pop aus Bayern, der sich in vormals undenkbaren Größenordnungen etablieren konnte: Die Hochgeschwindigkeits-Blechblas-Truppe La Brass Banda lockte über 10.000 Menschen zu einem anarchistischen Folklore-Pogo in die riesige Münchner Olympiahalle. Aber auch neuere Phänomene, wie das Münchner Rap- und Blasmusik-Kollektiv Moop Mama entwickelten aus ihrem furiosen Duell zwischen Trompeten, Saxofonen und gerappten Texten einen höchst eigenwilligen Mix. DJ Sepalot von der Münchner Crew Blumentopf unternahm gar auf dem Album
Beat Konducta Bavaria (das zum freien Download im Netz steht) ein bemerkenswertes Stilexperiment. Er fügte Wort- und Sound-Samples aus der bayrischen Volksmusik zu rhythmischen Collagen zusammen und demonstrierte, dass Schuhplattler und Blasmusik durchaus den Groove haben können.