Für die Übersetzer Marcelo und Nina ist die Bibliothek des Europäischen Übersetzer-Kollegiums in Straelen ein Traumort. Kein Wunder, denn in dieser Bibliothek können sie sogar übernachten.
Ob es wohl noch eine andere Bibliothek in der Welt gibt, in der man schlafen kann? In der Bibliothek des Europäischen Übersetzer-Kollegiums (EÜK) in Straelen darf man dies tun – und muss es als Übersetzer oftmals auch. Die Haupträume, in denen etwa die Nachschlagewerke stehen, sind öffentlich zugänglich. Die Bibliothek setzt sich jedoch in fast jeden Raum des Hauses fort – auch in die Privatzimmer der Übersetzer. Hier ist in der Regel die Nationalliteratur zu finden.
Bett und Bücher im Zimmer von Nina und Marcelo | Foto (Ausschnitt): © Anja Kootz
Manchmal klopft es an der Tür, und jemand leiht sich ein Buch aus. Oder wir entdecken vor dem Einschlafen plötzlich ganz ungewöhnliche Lektüre, wie etwa den Roman Bitterfotze der schwedischen Autorin Maria Sveland. Für Bücherwürmer ist das ein wahr gewordener Kindertraum. Auch deswegen kommen wir, eine Professorin und ein Autor aus Brasilien, beide Übersetzer und Herausgeber, seit Jahren im Januar hierher.
Ich, Marcelo, habe hier unzählige Texte übersetzt – von Lessing über Musil bis Ingo Schulze, von Schiller über Schnitzler bis Saša Stanišić. Und immer wieder habe ich auch an meinen eigenen Romanen gearbeitet, zuletzt an A casa cai (Das Haus fällt).
Nina Saroldi besucht Sigmund Freud – zumindest literarisch. | Foto (Ausschnitt): © Anja Kootz
Am Kopf des großen Arbeits- und Konferenztisches im Erdgeschoss, ganz in der Nähe von Sigmund Freuds Werken in mehreren Sprachen und Ausgaben, hat Nina die Vorworte für ihre Reihe Para ler Freud (etwa Freud lesen) verfasst und ihr Buch über Freuds Das Unbehagen in der Kultur geschrieben.
Lexika in über 275 Sprachen und Dialekten | Foto (Ausschnitt): © Anja Kootz
So sind viele unserer Arbeiten überwiegend in der Bibliothek des winterlichen EÜK in Straelen entstanden: in der öffentlich zugänglichen Galerie oder in unserem Zimmer. Denn hier sind die Bedingungen einfach optimal. Man braucht sich nur hinzusetzen, und die Arbeit läuft fast von alleine. Das Telefon bleibt still, niemand klingelt an der Tür, nichts stört – auch am Wochenende.
In Ruhe arbeiten können | Foto (Ausschnitt): © Anja Kootz
Die Wege sind kurz: Von unseren Zimmern ist es nur eine halbe Minute in die Küche, wo wir ein gutes, kosmopolitisches Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen führen können. Und danach müssen wir wiederum nur zehn Schritte gehen, an Tausenden von Büchern und Enzyklopädien vorbei, und haben erneut optimale Arbeitsbedingungen auf der Galerie. In Straelen entdecken wir plötzlich, wie einfach das Leben sein kann. Die Ruhe ist so groß, dass wir vor dem Einschlafen geradezu wahrnehmen können, wie sich die Lider mit einem leisen Geräusch schließen.
In der Galerie der Bibliothek finden sich Wörterbücher, Lexika und offene Arbeitsplätze. | Foto (Ausschnitt): © Anja Kootz
Straelen ist für uns in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher Ort. In welchem anderen Teil der Welt schippt ein tropischer Brasilianer wie ich Schnee, erinnert sich mit Schneeschaufel und Besen in der Hand an seine deutschen Vorfahren und fühlt plötzlich – proustianisch – wie die Vergangenheit gegenwärtig wird. Wo sonst kann man mit einem griechischen Kollegen reden und anschließend mit ihm kritisch das Filmdrama Nebraska von Alexander Payne anschauen? Und dann, nach zehn Aufenthalten, in der niederrheinischen Kleinstadt Straelen sogar den „Backespad“ entdecken, der in der Nähe der Goethe-, Schiller- und Lessingstraße beginnt und anschließend irgendwo in den Feldern endet.
Das Atriumsdach: Von den Arbeitsplätzen auf der Galerie geht der Blick in den Himmel. | Foto (Ausschnitt): © Anja Kootz
Hier in der Bibliothek kann man in einem Monat eine ganze literarische Welt erschaffen. Nina ist sich sicher, dass sie auch wegen des EÜK und seiner Bibliothek mit dem Übersetzen begonnen und sich so ihren Kindertraum erfüllt hat: in einer Bibliothek zu schlafen. Und dazu gewinnen wir beide hier immer wieder einen oder zwei Freunde fürs Leben.
Das Europäische Übersetzer-Kollegium (EÜK) in Straelen ist das weltweit erste und größte internationale Arbeitszentrum für professionelle Literatur- und Sachbuch-Übersetzer. Aus aller Welt kommen Übersetzer mit einem Übersetzungsauftrag ihres Verlags hierher. Im EÜK gibt es 30 Apartments und Küchen zur Selbstverpflegung. Die Bibliothek steht den Gästen rund um die Uhr zur Verfügung. Sie umfasst rund 125.000 Bände, davon 25.000 Sachbücher und 65.000 literarische Werke, meist in Original und Übersetzungen. Sie enthält außerdem 35.000 Nachschlagewerke aus nahezu allen Sprachen und Dialekten und aus allen Bereichen und Epochen.