Elektronische Musik 2012
Bangen um Berghain & Co.
2012 wurde Deutschland als Bezugsrahmen für die elektronische Clubmusik wieder wichtig. Die GEMA löste mit ihren Tarifplänen eine nie dagewesene Protestwelle aus. Junge Musiker etablieren an den Meinungsmachern vorbei einen neuen, massentauglichen, poporientierten Clubsound. Mit der Distributionsplattform Soundcloud wurde die Berliner Techno-Infrastruktur um ein wichtiges Werkzeug erweitert. Ein Jahresrückblick von Alexis Waltz.

Die GEMA-Tarifreform gefährdet Clubs
Im April 2012 setzte die GEMA die Discotheken-Besitzer über das Inkrafttreten einer neuen Gebührenordnung zum 1. Januar 2013 in Kenntnis. Ziel dieser Reform war es, die Zahl der Tarife für Veranstaltungen zu vermindern und die Vorteile der Discotheken gegenüber den Kulturveranstaltungen aufzuheben. Die GEMA bestritt nicht, dass es zu Erhöhungen von bis zu 1.000 Prozent kommen könnte. Dabei handele es sich aber um Ausnahmen. Für die meisten Läden sollten aus Sicht der GEMA die Kosten fallen.Diese Nachricht löste einen Aufschrei aus. Die jährliche Zahlung des Cocoon Club in Frankfurt am Main sollte von 14.000 Euro auf 165.000 Euro steigen. Beim Berliner Berghain sprach man von einer Steigerung von 1.400 Prozent, beim Berliner Watergate von 2.000 Prozent. Laut der Bundesvereinigung der Musikveranstalter würden nur sehr kleine Clubs und einmalige Veranstaltungen profitieren.
Viele Clubmacher erklärten, dass die neuen Regeln sie zur Geschäftsaufgabe zwingen würden. Die Tarifreform löste einen nie dagewesenen Protest aus. Noch nie sah man die eigene Existenzgrundlage so direkt gefährdet. Eine durch die Diskothekenbetreiber initiierte Online-Petition wurde von über 250.000 Menschen unterzeichnet. Die Aktionsbündnisse „Kultur retten“ und „Fair Play“ koordinierten deutschlandweite Demonstrationen. Die in Berlin hatte mehr als fünftausend Besucher.
Clubs sind keine Discos
Indem die GEMA die Rechte der Produzenten vertritt, übernimmt sie im Clubkontext eine wichtige Aufgabe: Die Arbeit des DJ wird durch dessen Honorar von den Veranstaltern abgegolten. Die Hersteller der gespielten Musik werden nur unzureichend durch den Kauf der Platte vergütet. In der Diskussion wird nicht diese Umverteilung an sich in Frage gestellt. Vielmehr bestehen Zweifel, ob die gezahlten Gelder bei den entsprechenden Musikern ankommen. Denn aufgrund der GEMA-Vermutung muss ausnahmslos jeder Veranstalter GEMA-Gebühren zahlen – auch wenn er nur Musik spielt, deren Autoren keinen Vertrag mit der GEMA geschlossen haben. Diese Monopolstellung wurde jüngst vom Bundestag bestätigt, indem eine Petition zur Aufhebung der GEMA-Vermutung abgewiesen wurde. Sven Väth erklärte im Rahmen der Diskussion, 80 Prozent der von ihm gespielten Musik sei GEMAfrei. Ricardo Villalobos sagte, 50 Prozent der von ihm gespielten Musik sei noch nicht einmal veröffentlicht.Insofern liegt die GEMA mit ihrem Ansatz, die Clubmusik wie Diskothekenmusik zu behandeln, falsch. Discotheken besucht man, um Musik zu hören, die man kennt; Clubs wegen Musik, die man noch nicht kennt. Zur Discothekenmusik gehören die aktuellen Singles von Rihanna oder Cro und All-Time-Favourites wie It´s Raining Men von den Weather Girls. Da überrascht es nicht, dass die GEMA-Datenbank der Discothekenmusik mit 15.000 Titeln eine Auswertungsquote von 95% zulässt.

Ein neues Musikerbild als Herausforderung für die GEMA
Die Strukturen der GEMA sind auf einen kleinen Kreis von Profimusikern ausgerichtet. Deshalb heißt es immer wieder, dass die Abgaben der Clubs wenigen Schlager- und Rockstars zugutekommen. Gerade in der Szene der elektronischen Musik wird die Zahl aktiver Musiker aber immer größer. Heute verfügt jeder Computernutzer mit entsprechender Software über ein professionelles Studio, mit dem einsetzbare Clubtracks herstellbar sind. So verschwimmen Hobby und Beruf. Vom Musikerberuf zu leben, ist heute schwerer als vor dem Internetzeitalter, überhaupt Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen ist viel leichter.Viele Musiker haben sich damit abgefunden, dass Musik ein Hobby ist, und auch ein attraktives. Denn die Verbreitung der Musik ist mühelos und Feedback in Form von ein paar hundert Klicks und einiger freundlicher, ermutigender Kommentare von Gleichgesinnten auf Seiten wie Soundcloud sicher. Wenn Tracks dieser Musiker in großen Clubs laufen, denken diese noch lange nicht an eine GEMA-Anmeldung. Um glaubwürdig zu sein, müsste die GEMA auch diese Klasse von Musikern integrieren.
Globaler, digitaler Musikvertrieb als Chance
Im Zeitalter der physischen Tonträger musste für jedes Land ein Vertrieb gefunden werden, der die Musik durch angepasste Verpackung, Preise und Marketing auf dem jeweiligen Markt platzierte. Natürlich hatte dieser Vertrieb auch die örtlichen Verwertungsgesellschaften im Blickfeld. Heute bieten gerade kleinere Labels über MP3-Händler wie Beatport ihre Musik weltweit an. Die verminderten Einnahmen lassen eine komplexere Vermarktung oft gar nicht mehr zu. Indem Musik global vermarktet wird, geraten die nationalen Verwertungsgesellschaften aus dem Blickfeld.All das bedeutet aber nicht, dass die Musikproduktion der Gegenwart schlicht nicht mehr zu erfassen ist. Wenn ein Musikstück im Netz auftaucht, ist es schon eine prozessierbare Information. Die GEMA müsste nur einen Weg finden, diese Informationen zu benutzen. Die 700.000 Titel der Beatport-Datenbank könnten durch ein paar Zeilen in den Musikerverträgen von Beatport und einigen Maus-Klicks zu 700.000 Titeln in der GEMA-Datenbank werden. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die GEMA hat die Reform bis 2014 aufgeschoben.
Remixe in der Grauzone erfinden elektronische Popmusik neu
Nach den Neunzigern gab es keinen elektronischen Musikstil, der so breit trägt wie Techno zur Hochzeit der Love Parade. Seit der Jahrtausendwende wird Clubmusik aus Deutschland stärker international wahrgenommen. Für popaffine Deutsche wurde es aber leichter, sie zu ignorieren.Im letzten Jahr ist es einer jungen Generation von Musikern gelungen, einen populären, massenkompatiblen Clubsound zu erfinden. An den etablierten Labels und Clubs vorbei entwickelten sie einen eklektischen Dance-Sound, der Songschnipsel aus allen Phasen der Popgeschichte mit House Grooves kombiniert. Das Spektrum der aufgegriffenen Musik reicht von Swing-Nummern zu aktuellen R&B-Hits. Zu den zentralen Künstlern dieser Szene gehören die DJs Hannes Fischer oder Alle Farben. Sie wurden besonders durch die Festivals im Sommer bekannt. Zu den Medien dieser Szene gehört der Blog trndmusik und diverse Facebook-Seiten. Die meisten Stücke werden nicht-kommerziell im Netz vertrieben. Früher hätten sie als offizieller Remix vom Label des entsprechenden Sängers oder Rappers in Auftrag gegeben werden müssen oder wären als Bootleg kriminalisiert worden. Jetzt werden sie als Grauzone toleriert. Manche Labels haben angesichts der Flut von Bearbeitungen aufgegeben, gegen die Aneignung ihres geistigen Eigentums vorzugehen. Andere meinen, dass die Edits die Original-Songs bewerben.
„One Day/ Reckoning Song“: ein Internet-Phänomen erobert das Radio
Bisheriger Höhepunkt dieses Phänomens ist Wankelmuts One Day/ Reckoning Song. Der Berliner DJ und Philosophie-Student unterlegte den Folk-Rock-Song des israelischen Sängers mit einem äußerst charmanten House-Groove, der Avidans Stimme und die Gitarrenfigur in ein völlig neues Licht setzte. Innerhalb von vier Monaten wurde der Song fast fünfzig Millionen Mal gehört. Zum Vergleich erreichen die aktuellen, eigenständigen, auf tonangebenden „elitären“ Labels erschienen Clubhits selten mehr als eine Million Klicks.Die Besonderheit von One Day/ Reckoning Song liegt darin, dass er nach seiner Legalisierung als erster Song dieser Art auch in die alten Medien übergesprungen ist und auch in den regulären Media-Control-Charts Platz 1 erreichte.
Fritz Kalkbrenner gehört zwar nicht zur Generation dieser Artists und nutzt mit seinem Label Suol auch traditionelle Vertriebskanäle. Mit deren Musik teilen Kalkbrenners beschauliche Lieder aber das Interesse an einem poppigen, elektronischen Sound, der auch ohne Feiererfahrung und spezialisiertes Musikwissen zu begreifen ist. Obwohl Kalkbrenner auf Englisch singt, fühlt sich vor allem das deutschsprachige Publikum von seinen Songs angesprochen.
Berliner Softwarefirmen denken Musikproduktion und
-distribution zusammen
In den Neunzigerjahren ist in Deutschland eine einzigartige Technoinfrastruktur entstanden, die die Musik in die hinterwäldlerischsten Ballsäle gebracht hat. Dieses Netzwerk trägt heute von Berlin aus die weltweite Clubszene. Dazu gehören nicht nur Labels und Booking-Agenturen, sondern auch die Musiktechnologie.Mit der britischen, in Berlin ansässigen SoundCloud Limited, der Native Instruments GmbH (NI) und Ableton AG, sitzen auch die wichtigsten Software-Firmen in dem Bereich in Berlin.
NI ist mit seiner DJ-Software Traktor Marktführer und stellt diverse Software-Synthesizer her. Ableton konnte durch seinen auf Live-Performances ausgerichteten Sequenzer Live Marktführer Apple und Steinberg im Bereich der elektronischen Musik den Rang ablaufen.
Entscheidend ist dabei immer, dass sich die Programme nicht an den professionellen Studioingenieur richten, der in den Arbeitsabläufen ausgebildet wurde, sondern an den Do-it-yourself-Musiker, der auf intuitive Verständlichkeit angewiesen ist.
Mit allen Programmen produziert man nicht fürs stille Kämmerlein: Ableton Live dient sowohl der Produktion wie der Live-Aufführung der Musik. Mit Traktor gemixte DJ-Sets können live per Netzradio versendet werden. SoundCloud ist gleichzeitig Content-Plattform und soziales Netzwerk. Musiker können in kürzester Zeit ihre Tracks publizieren. Gleichzeitig ermöglicht SoundCloud einen Dialog zwischen Musikerkollegen und Fans. So ist die Seite Musikvertrieb, Werbeplattform, Plattenladen, Fanclub und Expertenforum.
Abschied von einer Frankfurter Institution
Zuletzt noch eine unerfreuliche Nachricht: Mit dem Frankfurter Cocoon Club musste der wahrscheinlich ambitionierteste Clubneubau Deutschlands seinen Betrieb einstellen. Der 2004 eröffnete Club wollte die in Kellern oder Parkhäusern veranstalteten Partys der Neunzigerjahre hinter sich lassen und eine gereifte Form des Feierns erfinden. Die futuristische, fantastische Klangwelt der elektronischen Musik sollte in Architektur, Design und Gastronomie Entsprechungen finden. Der Club wollte die Feier-, Socializing- und Repräsentationsbedürfnisse verschiedener Generationen von Frankfurtern unter einem Dach befriedigen.Der Versuch, sich als fast weltweit agierende Booking- und Veranstaltungsagentur mit einem Club von Weltrang in der eigenen Heimatstadt zu erden, erweist sich als unzeitgemäß. Damit geht ein Markstein des Techno der Regionen verloren. Offenbar können Clubs dieser Größe heute nur an globalen Feierzentren wie Berlin, Ibiza und Las Vegas betrieben werden.