2014 näherten sich der Freejazz und die elektronische Musik wieder an. Eine zentrale Rolle spielte dabei die internationale Anziehungskraft Berlins wie auch dessen florierende Galerien- und Kunstszene, die wegweisende Kollaborationen in neuen Räumen ermöglicht.
In der weiten Welt schon seit je her höher geschätzt als in der Heimat Deutschland, perfektionierten Kraftwerk im Jahr 2014 ein spielerisches Konzept und räumten zunehmend Missverständnisse in punkto Werktreue aus. Das Retrospektive-Konzept, die acht zum Catalogue raisonné gehörigen Kraftwerk-Alben an acht aufeinanderfolgenden Abenden zu spielen, war 2010 von dem einstigen Berlin-Biennale-Kurator Klaus Biesenbach in Auftrag gegeben und zwei Jahre später im MoMA uraufgeführt worden. Vier Jahre später gaben Kraftwerk 2014 eine Reihe von Retrospektive-Konzerten u.a. in Mexiko City, Los Angeles und Wien.
Leichtigkeit, Improvisation, Dynamik und ein poetisch-konkreter Umgang mit Text ließen Kraftwerk auch ohne neue Albumveröffentlichung erneuerungsfähig und somit permeabler erscheinen als Legionen von elektronischen Musikern, die angesichts prekärer Verhältnisse und identischer digitaler Instrumentenparks vielfach um sich selbst kreisen, um Identität und um gültige Positionen ringend.
Es war auch 2014 faszinierend zu beobachten, wie sich nicht zuletzt die Medien nach wie vor an der Frage abarbeiten, ob eine Band, die innerhalb der Leitplanken komplexer audiovisueller Patterns und noch dazu ohne sichtbare Instrumente spielt, als statisch oder doch als frei einzusortieren ist. Die Antwort ist nie bei einem ersten Konzertbesuch erfahrbar, erst in der (vermeintlichen) Wiederholung werden die Unterschiede zu vorangegangenen Abenden offensichtlich. Kraftwerk, die nach wie vor von vielen reflexhaft als Antithese zu Improvisation angesehen werden, beweisen damit eine Erneuerungsfähigkeit, die auch auf andere Felder abstrahlt: Die Frage nach dem Verschwinden des Protestsongs etwa, die in den letzten Jahren nicht zuletzt in der elektronischen Musikszene (weitgehend ergebnislos) diskutiert wurde, wird von Kraftwerk angesichts eines audiovisuellen Updates ihres Tracks Radioaktivität mit Gewicht versehen: Auf japanisch stimmt Ralf Hütter einen Klagegesang in Richtung Fukushima an und unterstreicht damit zudem, dass jenseits der Mikroimprovisation im Aufführungsrahmen auch die Makroevolution eines Songs über Jahrzehnte hinweg möglich ist.
Die elektronische Musik wird immer langsamer
Wie weit kann man elektronische Musik abbremsen? In der von Phuong Dan organisierten Clubnacht Gatto Musculoso Listening Session im Hamburger Pudel wird es vorgemacht, in Detlef Weinrichs Salon des Amateurs in der Kunsthalle Düsseldorf ebenso wie in Hanno Leichtmanns Grand-Jeté-Reihe im OHM Club im Berliner Kraftwerk.
Phuong Dan |Foto: Promo
Den Reihen gemein ist, dass elektronische Musik nicht als Bespaßung Kick-suchender Wochenendtouristen begriffen wird, sondern in untersten BPM-Bereichen anti-funktionale Experimente wagt. Krautrock, Kosmische Musik, minimale elektronische Musik in der Tradition John Carpenters wird zu Post-Kraut und Post-Cosmic. Das neue an diesen Club-Abenden ist, dass der Ort als Begegnungsstätte und die Musik als Inspiration begriffen wird – es wird das Gegenteil eines funktionalen Einsatzes von Musik zelebriert, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, dass die hier vorgelebten Club-Konzepte Nachahmer außerhalb Deutschlands finden werden. Vom Dogma der Tanzbarkeit befreit, erinnern die Performances der DJs, die vielfach mit Gast-DJs Abende bestreiten, in denen sie das genaue Gegenteil zu der elektronischen Musik auflegen, für die sie bekannt sind, an Grassroots-Revolutionen von unten.
Es ist auffällig, wie sich an den genannten Abenden die Generationen mischen, sich die Sound-Visionen der DJs, die stets auch selbst Produzenten der Musik sind, die sie auflegen, einer Idee von Barmusik zu nähern beginnen, die am ehesten beschreibbar ist, wenn man sich einen Pianisten in der Hotelbar vorstellt, dieser aber statt Moon River zu spielen über John Cage improvisiert. Es handelt sich um Gesten, die Ablehnung und Zuneigung zugleich ausdrücken: Einer aus dem Ruder laufenden Kommerzialisierung und damit einhergehend Reduzierung der elektronischen Tanzmusik auf ihre Funktion wird eine vermeintlich schwerer konsumierbare Position gegenübergestellt, die den Hörer als kritische Instanz umarmt.
Die Improv-Musik geht neue Bündnisse ein
Zunehmend suchen Musiker der elektronischen Musik den Schulterschluss mit Improv-Musikern und der Performance-Kunstszene. Herauszuheben wäre die in vielerlei Hinsicht gelungene Kollaboration der Label-Betreiberin (Monika Enterprise und Moabit Musik) und Musikerin Gudrun Gut mit Hans Joachim Irmler von Faust unter dem Namen Gut und Irmler, weil hier nicht nur über Generationsdemarkationslinien hinweg kollaboriert wird, sondern auch widersprüchliche musikalische Konzepte vorurteilsfrei ineinander aufgehen. Freie Improvisation trifft auf die Patterns programmierter Beats und Sequenzen.
Während die Sessions von Gut und Irmler eine einmalige Begegnung waren, kollaboriert die halbe Welt mit dem Freejazz-Elektronik-Grenzgänger André Vida: Musiker wie Max Loderbauer, Rashad Becker, Ricardo Villalobos und Arto Lindsay, aber auch Künstler wie Tino Sehgal, Tarek Atoui oder Lawrence Weiner. Vida lebt in Berlin und ist Künstler des Labels PAN, dessen ebenfalls vielfach in Berlin ansässige Musiker und Produzenten unentwegt kollaborieren. Die Selbstverständlichkeit dieser teils atonalen, teils von Improv- und Freejazz beeinflussten Zusammenarbeiten auf dem Feld der elektronischen Musik werden längst in London (in der von Hans Ulrich Obrist co-kuratierten Serpentine Gallery, aber auch beim Hyperdub-Label ) und von Kunst-Institutionen wie dem Castello di Fosdinovo in Italien durch Performancereihen oder Residencies gefördert. Eine neues, sich gegenseitig befruchtendes Nebeneinander von abstrakter Musik, elektronischer Musik und Kunst erlebt in Berlin einen Boom sondergleichen. André Vida veröffentlichte 2014 das Album Minor Differences auf Entr’acte und wurde beauftragt, die Eröffnungsmusik zur 8. Berlin Biennale 2014 zu komponieren.
Und natürlich sind diese digital-akustischen Grenzgänge zwischen elektronischer Musik und Freejazz nicht zuletzt angeheizt von zunehmend mutiger werdenden Re-Issues-Serien mit Veröffentlichungen von u.a. den Elektronik-Pionieren Hans-Joachim Roedelius und Conrad Schnitzler auf Bureau-B. Die Jahrzehnte verschwimmen, je mehr Methoden aus den Siebzigern kurzgeschlossen werden mit intuitiv spielbaren Touchscreen-Instrumenten. Herauszuheben wäre in diesem Kontext einerseits die von Felix Kubin veröffentlichte Re-Issues-Kopplung Science Fiction Park Bundesrepublik (auf Finders Keepers), auf der obskure Elektronikexperimente aus den frühen Achtzigern von Cinema Verité, Pyrolator oder Holger Hiller versammelt sind – die Avantgarde von einst erweist sich 2014 als Vorweggriff auf die Hörgewohnheiten von heute. Und andererseits empfiehlt sich Asmus Tietchens mit seiner Wiederveröffentlichung Nachtstücke (auf Bureau B) aus dem Jahr 1980, als einer der jüngeren Paten der elektronischen Musik endlich die Anerkennung zu bekommen, die ihm seit Jahren zusteht. Selten vorher und selten anschließend wagte sich der Hamburger Klangforscher und Tape-Manipulator Tietchens so klar in Richtung elektronischer Soundscapes wie auf dieser nokturnen Suite.
Schlechte Zeiten – klingt gut
„Ich hätte lieber bessere Zeiten und schlechtere Musik“, sagte Bernd Begemann 1992 in einem Interview. Ganz im Sinne Begemanns titelte die Spex ihr Jahresrückblicksheft 2014 mit der Phrase: „Ein Scheißjahr geht zu Ende“. Die Musik indes war im Jahr 2014 phantastisch. Im 20. Jahr ihres Bestehens veröffentlichten Kreidler mit ABC die bislang beste Platte ihrer Karriere, verfilmt als 2+2=22 (The Alphabet) von Heinz Emigholz und mit einem Cover der georgischen Künstlerin Thea Djordjadze versehen. ABC vereint alle Tugenden Kreidlers zu einer bisher nicht erreichten Synthese. Den robusten Bassfundamenten stehen frei mäandernde Melodielinien gegenüber; die geradlinige akustische Rhythmik Thomas Kleins amalgamiert mit Sprachsamples und geduldig sich aufbauenden elektronisch-atonalen Spannungsbögen. Aber nicht nur Kreidler trieben die Entwicklung der elektronischen Musik in Deutschland voran.
Zu den weiteren Protagonisten, die ebenfalls 2014 neue Alben veröffentlichten, gehören Roman Flügel und Efdemin. Letzterer veröffentlichte mit seinem dritten Album Decay ein herausragendes Deep-Techno-Album, das er während einer dreimonatigen Artist Residency in Kyoto und zu Hause in Berlin aufgenommen hat. Decay ist der beste Beweis für die These, dass Techno, kompromisslos, stylish und voller Anmut eingespielt, eine sehr meditative Wirkung auf den Hörer haben kann. Der Wahlfrankfurter Roman Flügel spielte 2014 mit Happiness Is Happening sein zweites Album für das Hamburger Label Dial ein. Es ist im besten Sinne uncool – Roman Flügel beweist Mut zu Melodien, seine Tracks haben fast Songstrukturen, eine Nähe zur modularen Synthesis Depeche Modes ist unüberhörbar.
Besondere Beobachtung verdient auch Alva Notos und Olaf Benders neues Projekt Diamond Version. Im Anschluss an eine Reihe von fünf limitierten Singles erschien 2014 Diamond Versions Debütalbum Ci. Hierbei handelt es sich um eine abstrakt-tanzbare elektronische Meditation über die Durchkommerzialisierung der Gesellschaft (nicht nur) auf semantischer Ebene. Die Slogans von Weltkonzernen – etwa Sonys „Make.Believe“ oder Nokias „Connecting People“ – besetzen zunehmend unseren Sprachgebrauch, indem Versprechen oder sprichwörtliche Redewendungen in den Kontext eines Markenversprechens gestellt werden. Bei Diamond Version wird das Hijacking der Sprache durch die Konzerne thematisiert und in Musik prozessiert – das sind moderne Protestsongs jenseits und doch in der Tradition von Kraftwerk.
Zukunftsmodell Schallplattenlabel?
Trotz der anhaltenden Absatzkrise auf dem Tonträgermarkt geben Nischen-Labels wie PAN, Live at Robert Johnson, Dial und Tresor Records nicht auf und veröffentlichen auch 2014 gesellschaftlich relevante Musik für die Nische. Wobei sich die Frage stellt, was noch die Nische ist, wenn die Kunst- und die Musikszene zunehmend verschmelzen. Für beide Disziplinen erschließen sich neue Interessensgruppen. Es wird zunehmend interessant sein zu beobachten, inwiefern bisher vereinzelte Kollaborationen oder Joint Ventures mit Galerien, Museen und Kunstinstitutionen neue Einnahmequellen und Betätigungsfelder für entsprechend fokussierte Labels eröffnen werden. Zugleich nutzen Labels wie Künstler digitale Gratis-Plattformen wie Soundcloud, um Musik barrierefrei zu distribuieren. Bestes Beispiel hierfür ist die PAN-Mix-Serie auf Rinse FM. Einmal mehr ein progressives Format, das die Durchdringung der Disziplinen Improvisations- und elektronische Musik mit einer Offenheit vorantreibt, dass man von einer neuen Selbstverständlichkeit sprechen muss. In diesem Sinne war 2014 auch ein Jahr, in welchem das Niveau der Podcasts neue Höhen erklomm. Herauszuheben die Bemühungen von Berlin Community Radio, Protagonisten der Berliner Szene – Einheimische und Zugezogene, Deutsche wie Ausländer – unter dem Dach einer Internet-Radiostation zu vereinen.