Elektronische Musik 2011
Blüh’ im Glanze dieses Glückes
Für Tobias Thomas stand die elektronische Musik in Deutschland 2011 ganz im Zeichen von Politik und Wirtschaft. Ein Rückblick auf zwiespältige Entwicklungen auf der „Insel der Glückseligkeit“.

Es war auch das Jahr nach der Duisburger Love-Parade-Katastrophe, von der, über die Tragödie vieler verlorener Menschenleben hinaus, die Befürchtung blieb, die gesamte (Groß-)Veranstaltungsbranche, insbesondere im Bereich elektronischer Musik, würde massiv unter ordnungspolitischen Konsequenzen leiden müssen. Keine allzu guten Voraussetzungen also für Musik, für deren Gelingen angeblich „gute Laune“ und „Stimmung“ unabdingbar sind.
Andererseits musste man den Eindruck gewinnen, Deutschland sei einmal mehr, inmitten wirtschaftlich apokalyptischer Zeiten, eine letzte Insel der Glückseligkeit - präsentierte sich das Land doch im Vergleich zu vielen anderen europäischen Nachbarn noch in ganz prächtiger Verfassung: die Fußballstadien voll, die Bars und Restaurants voll, die Clubs voll, die Festivals und Konzerte in Reihe ausverkauft.
Doch auch die elektronische Musik, einst eine Insel innerhalb der Insel der Glückseligkeit, kann sich so einfach nicht mehr aus der Realität zurückziehen und muss schmerzlich erfahren, wie längst alles mit allem zusammenhängt. Technologie, Ökonomie, Politik. Es ist alles sehr kompliziert geworden.
So sind auch 2011 Labels, Vertriebe, Clubs und Plattenläden für immer von der hiesigen Bildfläche verschwunden. Immerhin kümmern sich mittlerweile nicht nur Bier-, Zigaretten- und Energy-Drink-Hersteller, sondern auch Institutionen des Bundes, der Länder und Kommunen um den sub- und popkulturellen Unterbau Deutschlands.
Arm und reich – So klingt Globalisierung
In von der Weltwirtschaftskrise viel schwerer getroffenen Ländern wie etwa Spanien sind deren Auswirkungen auf die Clubkultur ganz unmittelbar zu spüren gewesen.Wo junge, kulturell neugierige Menschen ohne Ausbildung, Job und Einkommen dastehen, wird der Besuch eines Konzerts oder einer Clubnacht mit teuren ausländischen DJs schnell zum unerschwinglichen Luxus.
Spätestens dann bemerkt auch ein im reichen Deutschland lebender DJ, der bislang mehrmals im Jahr für einige lukrative Auftritte in Spanien weilte, einen deutlichen Rückgang seiner Engagements. Kleine, gut programmierte Clubs wurden geschlossen, vormals engagierte und risikofreudige Veranstalter sind vorsichtiger geworden, reduzieren die Anzahl ihrer Events und bezahlen allenfalls noch die Hälfte der in den fetten Jahren üblichen Gagen.
Gleichzeitig erleben wir eine nach wie vor boomende globale Clubindustrie, meist da, wo Einnahmen aus Massentourismus und von privaten Großsponsoren in die Clubs oder Festivals fließen - wovon vor allem die gerade besonders angesagten DJs in Form exorbitanter Vergütungen profitieren.
Die musikalischen Folgen sind unüberhörbar: Die feinen, reduzierten Strukturen des vor allem in Deutschland Ende der 1990er Jahre populären und teilweise auch hier entstandenen Minimal Techno und all der sozialrevolutionären Impulse elektronischer Tanzmusik sind fast verschwunden. Stattdessen hat sich in den letzten Jahren vielerorts eine digital hochgezüchtete musikalische Mischung aus extrem druckvollen, hochkomprimierten Beats, monotonen Bassläufen und – für den sich ständig wiederholenden Klimax – seltsamen Staubsauger-Sounds entwickelt.
Mit seiner permanenten Signalflut hat dieser Mix die Hörgewohnheiten einer ganzen Generation nachhaltig beeinflusst und ist, von allem historischen Ballast (Soul, Disco, Funk) und störenden Konnotationen (Innovation, Divergenz) befreit, eine Massenware geworden. Ein Track gleicht hier dem anderen.
Schmelztiegel Berlin

Urbane Konflikte
In den drei großen deutschen Musikmetropolen Berlin, Hamburg und Köln rückten 2011 gleichzeitig Konflikte rund um das Schlagwort „Gentrifizierung“ , in verstärktem Maße in den Blickpunkt: Vom pulsierenden Großstadtleben angezogene Besserverdiener kaufen sich Wohneigentum in den einschlägig bekannten Szenevierteln, um diese fortan in eine familienfreundliche urbane Idylle umzuwandeln. Auf der Strecke bleiben dabei unter anderem die Orte, an denen elektronische Musik in Deutschland einst entstanden ist, wo sie weiterentwickelt und gelebt wurde.In diesen Konflikten stehen sich Alteingessene und Zugezogene, ruhesuchende Anwohner und lärmende Touristen, Bestandserhalter und Luxussanierer mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber. Kein Wunder, dass die drei mitgliedsstärksten Interessenverbände für Club- und Livemusik , Clubcommision Berlin, Clubkombinat (Hamburg) und Klubkomm (Köln) kurz davor stehen, einen nationalen Verbund zu gründen, um sich noch wirksamer gegenüber Politik und Gesellschaft zu Wort melden zu können.
Deep, zart und melancholisch – Underground in Deutschland
Wenn es nicht um Politik, sondern um aktuelle Clubkultur geht, spricht man in Hamburg jenseits der Szenemagneten Übel & Gefährlich, Golden Pudel Club, Dockville und Reeperbahnfestival hinter vorgehaltener Hand jedoch längst von einer „toten Szene“. Dabei haben an Elbe und Alster immer noch zwei der wichtigsten elektronischen Labels ihr Hauptquartier - nämlich Dial mit seinem Schwesterlabels Smallville und Laid, sowie DJ Kozes Pampa Records, auf dem 2011 einige der herausragenden Autorentechno-Alben hierzulande erschienen: Meine zarten Pfoten von Ada, Thora Vukk von Robag Wruhme sowie Well Spent Youth von Isolee.Flankiert von innovativen Newcomern wie Die Vögel aus Hamburg und dem Schweden Axel Boman sowie den Eigenproduktionen des Labelbetreibers DJ Koze selbst, mauserte sich Pampa 2011 zu einem der momentan relevantesten Electro-Labels in Deutschland.
Auch wenn DJ Koze schon seit einigen Jahren kaum noch in Hamburg weilt, wie auch die Begründer von Dial, Peter Kersten, Paul Kominek und David Lieske (auch bekannt als Lawrence bzw. Pavel bzw. Dave), eher an der Spree anzutreffen sind, verweisen ihre mit Hamburg stark assoziierten Labels immerhin auf ein mögliches Leben abseits der ausgetrampelten Hauptstadtpfade. Ähnliches gilt natürlich auch für wichtige Plattformen wie Gomma, Permanent Vacation (beide München), Desolat (Düsseldorf), Freude Am Tanzen (Jena) oder Running Back (Darmstadt).
Mit Roman Flügels Fatty Folders gelang auch Dial 2011 die Veröffentlichung eines überaus überzeugenden Autorentechno-Longplayers, der es im Gegensatz zu vielen anderen elektronischen Werken auch schaffte, eine etwas breitere mediale Aufmerksamkeit zu erregen.
Elektronische Musik in Deutschland ist zwar längst vollständig in den popkulturellen Mainstream integriert und dementsprechend anerkannt, die „alten“ Genres Rock, Pop, Folk und Hip-Hop beherrschen aber wie gehabt die Charts und, wenn überhaupt über Popkultur geschrieben wird, auch die Schlagzeilen des Feuilletons. Außer dem weiterhin in einer anderen Liga spielenden Paul Kalkbrenner und mit Abstrichen den „deutschen Justice“, dem Duo Digitalism, hat die deutsche Elektronik-Szene seit langem keinen veritablen neuen Star mehr hervorgebracht. Kein Casper, wie ihn die deutsche Hip-Hop-Szene 2011 gebar, kein Dubstep-Pop- Crossover, wie ihn der Engländer James Blake erfolgreich lancierte: Die deutsche Elektronik-Szene ist und bleibt Underground, daran konnten auch vielbeachtete Alben wie von Modeselektor (Monkeytown), Fritz Kalkbrenner (Suol) oder Apparat (Mute) nicht viel ändern.
Nostalgie und neue Bewegung
Die Mitte der elektronischen Tanzmusik wurde, wie bereits 2010, von einer Rückbesinnung auf nostalgisch verrauschten Deep und US-House dominiert, veröffentlicht auf einer Vielzahl kleiner und spezialisierter Labels, verteilt auf Edits, Bootlegs und Dubplates, viele davon nur im Internet oder nur auf Vinyl zu finden.Eine ganz neue Generation junger Musikliebhaber, DJs und Produzenten vertiefte sich da in das Erbe von 30 Jahren Techno, House und Elektronika und zog daraus durchaus interessante und neuartige Lehren.
Besondere Verdienste über die bloße Restaurierung von House hinaus erwarben sich im letzten Jahr die gebürtige Niederländerin Steffi, Resident DJ in der Berliner Panorama-Bar, mit ihrem melancholisch-verspielten Debüt-Album Yours & Mine (Ostgut Ton) sowie Altmeister Portable, geborener Südafrikaner, mit Into Infinity, erschienen auf dem nun schon seit vielen Jahren in Berlin ansässigen Label Perlon.
In Köln, wo man der elektronischen Musik schon immer gerne eine gehörige Portion Pop beigemischt hat, konzentrierte sich 2011 das vor langer Zeit als fast schon „zu deutsch“ angesehene Label Kompakt auf Alben internationaler Künstler wie Gui Boratto, John Tejada, Rainbow Arabia, WhoMadeWho, GusGus, Walls oder The Field. Das mit Spannung erwartete Album des rheinischen Duos Coma ließ dagegen weiter auf sich warten, einzig Kompakt-Ikone Wolfgang Voigt hielt mit seinen Kafkatrax die alte Fackel in den Sturm.
Das aus Kölner Nährboden hervorgegangene, dann aber nach Berlin emigrierte Trio Brandt Brauer Frick fand sich dagegen im vergangenen Jahr urplötzlich auf einer ganz neuen Umlaufbahn wieder. Nicht zuletzt ihr techno-akustisches Projekt The Brandt Brauer Frick Ensemble , eines der Aushängeschilder der neuen Bewegung „Elektronik im Konzertsaal“, verhalf den drei stets adrett mit Hemd und Krawatte auftretenden jungen Männern zu Auftritten auf der ganzen Welt, unter anderem auf den Glastonbury Festivals und dem kalifornischen Festival Coachella.
Natürlich darf man die elektronische Musik aus Deutschland nicht nur auf die großen Tendenzen in den Bereichen Techno und House reduzieren. Die Drum&Bass- und Dubstep-Szenen in Deutschland blühen, die Münchner Schlachthofbronx, der unermüdliche Daniel Haaksman sowie das transnationale Label Cómeme forschen weiter an der Verschmelzung panamerikanischer und europäischer Tanzmusiken; schließlich gibt es großartige (neue und alte) Künstler in den Bereichen Ambient, Elektroakustik und an den Rändern zur Neuen Musik.
Als ein besonderes Highlight sei hier das Album Salon des Amateurs (Fatcat) des Düsseldorfer Pianisten und Produzenten Hauschka genannt, dessen Titel eine Hommage an den gleichnamigen Club der Düsseldorfer Kunsthalle ist.
Eine Platte nach einem solchen Soziotop zu benennen, auch das hat etwas Politisches.