Nahaufnahme
Über die Liebe zur Straßenbahn

In Berlin fahre ich selten Straßenbahn. Zum einen gibt es in meiner unmittelbaren Umgebung keine. Außerdem sind dort keine wirklich alten Straßenbahnen mehr im Gebrauch. Die Tram im Prenzlauer Berg, in Mitte, in Friedrichshain: eine quietschgelbe, hyper-moderne BVG-Maschine. Hier in Bratislava habe ich das Glück, jeden Tag mit der Tram in die Redaktion fahren zu können. Nummer 3, 4 oder 5 bringen mich nach Nové Mesto. 

In dieser Stadt gibt es neben den modernen roten Trams auch noch die ältere, etwas verrostete aber ungemein charmantere Variante. Die, bei der man zwei Stufen nach oben steigt. Die cremefarbige Oldschool-Variante, in der man fast nur hintereinander sitzen kann. Manche sind vorne rund, andere haben eine eckige Nase. Ich drücke morgens immer die Daumen und hoffe, es wird eine ältere, historische Tram sein. Eine des Typs Tatra 3 vielleicht, Baujahr 1968? Oder die Tatra T6A5 aus den 90ern?
 
Wenn sie endlich um die Ecke kommt und vor Poštova Martinus stehen bleibt, und sich meine kalten Füße langsam in ihrem Innern entspannen, habe ich die Gelegenheit, die Stadt auf ganz besondere Art zu beobachten. Von meinem leicht erhöhten Standpunkt schaue ich auf das Treiben um mich herum. Ich bin mittendrin, aber nebenher. Ich sehe die Menschen in ihren Autos, wie sie sich Alltagsgeschichten erzählen. Ihre Wehwehchen, ihre Probleme. Das Straßengeschehen auf dem Gehweg, eine Mutter die ihr Kind in einer blaugrünen Jacke an der Hand hält. Zwei Männer, die offensichtlich heute morgen schon ein paar Gläschen getrunken haben. Wenn ich die Augen schließe, höre ich „Nasledujúca stanica: Blumental“, die nächste Station. Und falls ich Glück habe, fällt zwischen den Häusern etwas Licht auf mein Gesicht. Meistens nicht. Der Bratislavsche Spätherbst steht dem Berliner in nichts nach. Dann bimmelt die Tram, um die Passanten auf sich aufmerksam zu machen.
 
1895 wurde das Straßenbahnnetz in Bratislava eröffnet. 244 Wagen soll der Betreiber heute haben, sagt Wikipedia. Mit einem Durchschnittsalter von 26,5 Jahren. Das ist jünger als ich. Wie viele Menschen haben sich in all den Jahren in Bratislava schon gegenseitig in und außerhalb der Tram angeschaut? Manche haben sicherlich auch ins Nirgendwo gestarrt. Ich auch. Was mag es sein, was ich an den alten, unrenovierten Straßenbahnen so mag? Vielleicht erinnern sie mich an Wien, an den Osten, und dadurch ans Reisen, auch an die Vergangenheit. Eine imaginäre Vergangenheit, die ich nicht kennen kann. Naja, ein bisschen was gelesen habe ich schon. Das alte Pressburg war mit seiner österreichischen großen Schwester durch eine Tram verbunden. Die Straßenbahn fuhr von 1914 bis 1938. Nur 60 Kilometer trennen die Städte. “Pionierska” meine Haltestelle, ist 2,8 Kilometer vom Zentrum Bratislavas entfernt. Die Pioniere.. das Wort erinnert an die Jungen Pioniere, die Kinderorganisation der DDR. Dort lernte man früh, die Ideologie zu verinnerlichen. Ich verinnerliche lieber meine von Melancholie durchtränkte Tramfreude. Plötzlich weckt mich die automatisierte Stimme mit „Pionierska“ aus meinem Tagtraum. Zeit, auszusteigen.