Nahaufnahme
Freigeister aus Kreuzberg

© BRHS Presse

Seit 44 Jahren bietet die Berliner Schule für Erwachsenenbildung eine basisdemokratische, selbstverwaltete Alternative zum staatlichen Bildungssystem. Der wunderbare Dokumentarfilm „Berlin Rebel School“, der jetzt auf dem Pravo Ljudski Film Festival zu sehen ist, porträtiert sie.  

Keine Zensuren, kein Direktor – diese Schule ist anders als alle anderen Schulen in Deutschland. Das sieht man schon an den Gängen, die mit zahllosen Graffiti und Plakaten verziert sind. Auch viele der Schülerinnen und Schüler mögen es gern bunt, tragen gefärbte Haare, Tattoos, Piercings.  Alle haben etwas gemeinsam: Sie sind aus dem staatlichen Schulsystem ausgestiegen oder von ihm ausgeschlossen worden. Fünf, sechs Schulen haben manche hier schon erfolglos besucht. Die Schule für Erwachsenenbildung (SFE) in Berlin-Kreuzberg ist ihre letzte Chance doch noch einen Abschluss zu machen. Hier gibt es keinen Leistungsdruck und kein Konkurrenzdenken, sondern persönliche Förderung und gemeinschaftliches Lernen.
 
Alex aus Luckenwald hat schon vier Schulen abgebrochen. Immer wieder wurde der 24-Jährige gemobbt. Er war im Heim, obdachlos, abgeschrieben. Jetzt gehört der sanftmütige junge Mann mit den wasserblauen Augen zu den sechs Schülerinnen und Schülern die der 1975 geborene Regisseur Alexander Kleider für seinen sehenswerten Dokumentarfilm „Berlin Rebel High School“ über mehrere Jahre bis zum Abitur begleitet hat. Dazu musste er erst das Einverständnis des basisdemokratisch organisierten Kollektivs einholen. Dass er selbst zwei Jahre auf die SFE gegangen ist, hat sicher zur Vertrauensbildung beigetragen. Sein Blick auf die 1973 im Geiste der antiautoritären Bewegung gegründete Institution ist liebevoll, aber nicht beschönigend. Auch die Probleme und Konflikte der SFE, die sich allein durch das von den Lernenden bezahlte Schulgeld von 160 Euro finanziert, werden deutlich. Etwa wenn sich mitten im schönsten Berliner Sommer die Klassen leeren, der Frust bei Lehrerinnen und Lehrern steigt und eine Krisensitzung einberufen wird.
 
„Wir sind kein Paradies für Hänger“, sagt Beate Ulreich aus dem Verwaltungsbüro einmal. Freiheit dürfe nicht mit Laissez-faire verwechselt werden. Womit sie das Selbstverständnis der SFE trefflich umreißt: Hier können die Schülerinnen und Schüler mitbestimmen – jede und jeder im Kollektiv hat eine Stimme – aber es müssen eben auch alle mitmachen, damit diese alternative Schule funktioniert Wenn sich niemand dafür verantwortlich fühlt, dass es auf den Toiletten Klobürsten gibt, dann gibt es eben keine. Selbstverwaltung braucht viel Engagement und Eigenverantwortung. Das gilt auch für das Lernen. Obwohl die Schülerinnen und Schüler motiviert sind, ist es doch hart für sie, wieder den Einstieg zu finden und dann dranzubleiben.
 
Die Lehrerinnen und Lehrer an der SFE wissen das, sie sind erfahren im Umgang mit den sensiblen jungen Leuten. So sieht der 29-jährige Mathematiklehrer Simon es als sein erstes Ziel an, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sein Motto lautet: „Jeder kann Mathe, manche brauchen nur ein bisschen länger“. Zu Letzteren gehört der „Mathe-Analphabetiker“ (Eigeneinschätzung) Alex, der  manchmal während des Unterrichts rausgehen muss, weil es ihm zu viel wird. Seine Distanz zum Fach spiegelt sich auch darin, dass er seinen neuen Taschenrechner lange nicht auspackt, sondern die Tasten durch die Plastikverpackung drückt.
 
 © BRHS Presse „Berlin Rebel High School“ hat einen guten Rhythmus, der von einem Wechsel aus Interviewsequenzen, kleinen Montagen und stimmungsvollen Luftaufnahmen der Schule sowie ihrer Umgebung bestimmt wird. Der Film folgt den drei Phasen, die Beate Ulreich in ihren Jahrzehnten an der SFE bei der Schülerschaft beobachtet hat: Am Anfang steht die Begeisterung, es folgt die Ernüchterung und schließlich die produktive Panik. Die Panik kommt vor den Prüfungen auf. Denn diese können die Schülerinnen und Schüler nicht an der SFE abgelegen, sondern nur als Gäste staatlicher Gymnasien, vor staatlichen Prüfern. Sie treffen also am Ende ihrer Schulkarriere noch einmal auf das System, vor dem sie einst geflohen sind.
 
Dem 23-jährigen Hanil, der aus Aachen nach Berlin kam, macht das keine Angst. Er hat an der SFE eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht, die der Film sehr gut veranschaulicht. War er anfangs noch skeptisch, ob er hier richtig ist, verfolgt er am Ende mit großer Disziplin sein Ziel Abitur zu machen und anschließend Maschinenbau zu studieren. Mit dem Kiffen, das zum Rauswurf aus seiner letzten Schule geführt hat, hat er längst aufgehört. Und seine notorische Faulheit hat er ebenfalls überwunden.

„Ich will es mir auch selber beweisen, denn ich weiß, dass ich kein dummer Mensch bin“, sagt er. Als eines seiner Abiturfächer hat er Deutsch gewählt, was sehr viel mit seinem Lehrer Klaus Trappmann zu tun hat, der ihm – nach schlechten Erfahrungen mit einer rassistischen Lehrerin – neue Freude an dem Fach vermittelt hat. Der 65-jährige Trappmann arbeitet seit vier Jahrzehnten an der SFE. Er verkörpert den hippiesken Geist der Schule und den des alternativen Kreuzbergs besonders gut.

Geprägt von der Berliner Studentenbewegung ist der Mann mit dem langen grauen Wuschelhaar weiterhin von einem festen Glauben an freiheitlich-humanistische Bildungsmethoden beseelt. „Es gibt kein ,falsch’“, sagt er. „Aus Fehlern lernen wir.“ Und wenn Regisseur Kleider ihn mit seiner Klasse bei einer Gedichtanalyse in seinem Gärtchen beobachtet, versteht man, wie Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit bei ihm zusammengehen. 2500 junge Menschen hat er zum Abitur geführt – im Übrigen für einen Stundenlohn von lediglich 12,50 Euro, was nur vier Euro mehr sind als der deutsche Mindestlohn.
 
Im letzten Drittel von „Berlin Rebel High School“ fiebert man mit, dass auch Hanil und Co. das Abitur schaffen. Nur wer die vier mündlichen Prüfungen besteht, wird für den schriftlichen Teil zugelassen. Das ist richtig spannend. Auch dem US-amerikanische Regisseur und Oscarpreisträger Michael Moore hat die Dokumentation gefallen, die für den Deutschen Filmpreis nominiert war. Auf der Preis-Gala sagte er per Videoschaltung, dass er selbst gern auf die Schule gegangen wäre. Das werden sicher auch viele Zuschauerinnen und Zuschauer in Sarajevo denken, wenn sie aus dem Kino kommen.