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Portrait der Regisseurin Anca Miruna Lazarescu

© pixabay/surdumihail

Temes war, eine Großstadt an der westlichen Grenze Rumäniens. Es ist 1986. Der Kalte Krieg tobt, Europa ist noch gespalten. Auf dem Pausenhof unterhalten sich die Kinder. Über Klassenkameraden, die plötzlich verschwunden sind. Über Nachbarn, die über die Donau geflüchtet sind, nach Jugoslavien. Über einen Tulpenhändler, der von der Bundesrepublik Geld bekommt, um Rumäniendeutsche in den Westen zu bringen. 

Anca ist acht. Mit solchen Geschichten wächst sie auf.
Im Dezember 1989 wird die kommunistische Diktatur gestürzt. Kurz nach der Wende reist Anca mit ihren Eltern in den Westen aus, nach Deutschland- ein Land, dessen Sprache sie aus der Schule kennt.
Zwei Jahrzehnte später, als Anca Miruna Lazarescu auf der Filmhochschule in München Regie studiert, kommen die Geschichten ihrer Kindheit wieder hoch. Eine davon, die von einer illegalen Flucht über die Donau während des Ceausescu-Regimes handelt, wird zum dem meistprämierten deutschen Kurzfilm aller Zeiten- Stille Wasser.
 
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Ich wollte unbedingt von der Zeit erzählen an die ich mich sehr vage und doch eigentlich sehr intensiv erinnere, das sind die 80 er Jahre, das ist die sogenannte schwarze oder dunkle Periode in der ich eigentlich meine Kindheit verbracht habe, sagt Filmregisseurin Anca Miruna Lazarescu.
 
Weltweit wird der Kurzfilm Stille Wasser mit mehr als 80 Preisen ausgezeichnet und auf Festivals in der ganzen Welt gezeigt von Mexiko bis China. Die Erwartungen an den ersten abendfüllenden  Spielfilm von Anca Miruna Lazarescu sind hoch. Die Regisseurin entscheidet sich für eine wahre Geschichte, die sie nie losgelassen hat, die sie unbedingt erzählen will.
So entsteht Reise mit Vater, der 2016 seine Weltpremiere in München feierte.
 
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Mein Vater hat mir diese Geschichte sehr häufig erzählt, ich war Kind, und die hab ich immer nicht begriffen und bei uns zu Hause wird immer wahnsinnig viel gestritten, wir sind vom Balkan und bei uns flogen häufig Fetzen und Teller, aber immer wenn es um diese Geschichte ging, gab es so eine Melancholie im Raum, und da wurde man immer eher still.
 
Eine rumänische Familie möchte 1968 in der DDR Urlaub machen. Kaum angekommen, rollen jedoch sowjetische Panzer ein, die Grenzen werden dicht gemacht. Die Familie kommt in ein Auffanglager. Dort erreicht sie die Nachricht, dass eine Rückreise nach Rumänien über den Osten ausgeschlossen sei. Stattdessen erhält die Familie ein 48-Stunden-Visum für den Transit über die BRD. Und damit die Chance, zu entscheiden, ob sie im Westen bleibt oder in die Heimat Rumänien zurückkehrt.
Der Vater der Regisseurin musste damals als 18jähriger diese Entscheidung treffen. Zu Hause wartete seine Freundin Nelly auf ihn. Er entschied sich, zurückzukehren. Für sie.
 
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Und mein Vater hatte eher so ne Traurigkeit und hat immer wieder sich gefragt: Was wäre wenn er sich damals anders entschieden hätte. (…)
(…) bin ich also mit einem Vater großgeworden, der eigentlich ein Leben lang diese Entscheidung bereut hat. Und das hat mich natürlich als Filmemacherin und auch als Mensch und Tochter sehr tief berührt.
 
Auf dieser Geschichte beruht in leicht abgewandelter Form das Drehbuch des Spielfilms Reise mit Vater. Ein Film, der gleichermaßen Kritik und Publikum begeistert. 2016 tourt er durch die Welt.Am emotionalsten ist die Premiere in Rumänien. Im Publikum sitzt die wirkliche Nelly, die damalige Freundin des Vaters.
 
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Mein Vater und Neli haben sich ja dann ziemlich bald auch getrennt, Nelly wurde nicht meine Mutter, ich habe sie auch zur Recherche des Films getroffen und gefragt, ob sie denn weiß, dass mein Vater auch mindestens zu 50% für sie zurückgekehrt ist. Und das Interessante ist, sie wusste das gar nicht so genau, sie haben nie mehr so richtig darüber geredet, weil das war alles belastend, man durfte nicht darüber reden, schon alleine einen Freund zu haben der 48 Stunden oder mehr im Westen verbracht hat, da haben die Eltern völlig zu Recht gesagt: „Der Junge hat Probleme, lass mal die Finger von dem“. Das waren Zeiten, die so unfassbar andere Spielregeln hatten, dass es wirklich schon sehr gut ist, im Zuge der anti-EU-Gespräche und der Frage „Sollen wir die Grenzen jetzt wieder zuziehen“ schon sinnvoll ist sich daran zu erinnern wie wir mal gelebt haben oder wie unsere Eltern gelebt haben.
 
Zurzeit dreht die Regisseurin Anca Miruna Lazarescu ihren zweiten Spielfilm. Glück ist was für Weicheier spielt nicht mehr in Rumänien, sondern in der deutschen Provinz, wo ein Mädchen versucht, das Leben ihrer großen Schwester zu retten. Es ist genau die Provinz, wohin Anca 1990 als Elfjährige zog, aus einer rumänischen Großstadt.
 
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Das ist durchaus wieder ein Stück von mir, aber ein wahrscheinlich viel kleineres, und ich freu mich sehr über diesen Film denn es ist ein Film über zwei Schwestern und ich glaube es ist ein sehr poetischer Film und ein Film wo ich noch viel mehr das machen will, was mir eigentlich auf der Seele brennt, nämlich Lachen und Weinen ganz nah aneinander zu bringen
und weiterhin in der Erzähltradition zu bleiben, in der ich großgeworden bin.
 
Über die Entscheidung ihrer Eltern, 1990 nach Deutschland auszureisen, freut sich Anca Miruna Lazarescu heute. Diese Erfahrung hat sie bereichert. Sonst wäre sie nicht der Mensch, der sie heute ist. Und hätte nicht so viele Geschichten zu erzählen.