Eine vitale Alternative – ein Blick auf 40 Jahre Alte Musik in Deutschland
Eine entschiedene Förderung durch Labels und Rundfunkstationen trug viel dazu bei, dass die Alte Musik in Deutschland eine vitale Alternative zum konventionellen Klassikbetrieb geworden ist. Als Rundfunkredakteur hat Bernhard Morbach die Entwicklung der Szene hautnah miterlebt. Ein persönlicher Blick auf 40 Jahre Alte Musik in Deutschland.
Es war äußerst spannend, in den vergangenen 40 Jahren die Expansion der Alten Musik in Deutschland mitzuerleben und im Rundfunk (Sender Freies Berlin, jetzt Rundfunk Berlin-Brandenburg) von 1979 an medial begleiten zu können. Im Verlauf von einer Generation ist sie zu einem flächendeckenden Phänomen und als solches eine vitale Alternative zum konventionellen Klassikbetrieb geworden. Meine erste Begegnung mit der Alten Musik fand zu Beginn meines Studiums im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität des Saarlandes in Saarbrücken im Jahr 1969 statt.In der Tonträgerabteilung des Instituts befanden sich einige Schallplatteneinspielungen, die man heute eindeutig als Pioniertaten der Alten Musik bewertet, etwa Bachs h-Moll-Messe mit dem Concentus Musicus Wien unter Nikolaus Harnoncourt, die mittelalterlichen Carmina Burana mit dem Studio der Frühen Musik und das Notre-Dame-Album der Capella Antiqua München – allesamt Produktionen der späten 1960er-Jahre. Die Vermutung drängt sich auf, dass die Alte Musik der musikalische Aspekt der 68er-Bewegung war und sich gegen das Establishment des Musikbetriebs richten wollte. Faktisch kann man dies so bewerten, obwohl die Interpreten sich kaum als Verfechter der einschlägigen Ideale der Bewegung empfunden haben dürften, sondern – mit ihrem durchaus alternativen Angebot – Teil des Establishments werden wollten.
Apropos Alte Musik
In der Neuausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart (1999–2007; 27 Bände) sucht man vergeblich eine Artikel "Alte Musik", obwohl dieser Begriff allgemein gebräuchlich ist. Freilich werden in Artikeln wie "Historismus" und "Aufführungspraxis" Aspekte der Alten Musik abgehandelt – aber dennoch: Es hätte geradezu ein Definitionszwang bestanden. Eine treffende und zudem sehr knappe Definition lieferte im Jahr 1980 – außerhalb des musikwissenschaftlichen Lehrbetriebs – Dr. Andreas Holschneider, damals Leiter der Archiv Produktion, in einer Podiumsdiskussion des Senders Freies Berlin (Alte Musik im Gespräch): "Alte Musik ist Musik mit unterbrochener Aufführungstradition" (aus der Erinnerung niedergeschrieben), wobei zu ergänzen wäre, dass diese Unterbrechung sowohl die Musik selbst als auch nur deren ursprüngliche Aufführungsweise betreffen kann.Dass sich die Musikwissenschaft in Deutschland nach wie vor einer Diskussion über das Phänomen Alte Musik verweigert, kann ein Hinweis darauf sein, dass man nicht wahrhaben will, dass sie in der Musikkultur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer erfolgreichen Konkurrenz der Neuen Musik geworden ist, deren Entwicklung man eine größtmögliche Bedeutung beimisst.
Alte Musik und die Medien
Schallplatte und Rundfunk bildeten seit den 1950er-Jahren wichtige Förderer der jungen Bewegung Alte Musik. 1949 gründete die Deutsche Grammophon Gesellschaft ihr Label Archiv Produktion. 1958 folgten Das Alte Werk der Firma Telefunken und das selbstständige Label Deutsche HarmoniaMundi. 1972 schließlich startete die Firma Electrola ihre Reihe Reflexe, die in der gesamten Entwicklung der Alten Musik wesentliche Akzente setzte, indem sie die letzten Reste einer scheinbar bloß dokumentarischen Intention tilgte. Zur Emanzipation der Alten Musik gegenüber dem klassischen Standardrepertoire trug wesentlich die Arbeit der beiden wichtigsten Produzenten, Gerd Berg und Wolf Erichson, bei.Abgesehen vom Label Deutsche Harmonia Mundi, das eine neue Heimat bei Sony Music gefunden hat, ist die Alte Musik heute eine Domäne der kleinen (Independent-)Labels. Die wichtigsten in Deutschland sind Carus, Carpe Diem Records, cpo und Christophorus. Man spricht heute allenthalben von der Krise des Musikmarktes auch für die Alte Musik. In der Tat sind CD-Produktionen für die Künstler (nicht nur im Bereich der Alten Musik) heutzutage allenfalls ein Nebenerwerb. Bei etlichen Labels müssen sich die Musiker sogar an den Produktionskosten beteiligen.
Der Rundfunk als Förderer
Zwei Rundfunkanstalten der ARD (Arbeitsgemeinschaft öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland) waren als Wegbereiter der Alten Musik besonders wichtig. Mit Wolfgang Buchner als verantwortlichem Redakteur wurden seit den 1960er-Jahren von Radio Bremen bedeutende Pioniere entdeckt oder gefördert, unter ihnen Nikolaus Harnoncourt, Gustav Leonhardt und die in Berlin ansässige Musicalische Compagney unter der Leitung von Holger Eichhorn. Mit der Gründung von Pro Musiqua Antiqua 1960 bereitete der Sender der Alten Musik eine Festival-Bühne (seit 2009 musicadia – Tage für Alte Musik im Sendesaal). Die Aktivitäten von Radio Bremen bildeten gewissermaßen das kulturelle Fundament für das 1986 von Thomas Albert gegründete Ausbildungsinstitut Akademie für Alte Musik, das 1994 Teil der Hochschule für Künste in Bremen wurde.Der bedeutendste und finanzkräftigste Förderer der Alten Musik seit ihrer Gründerzeit ist der Westdeutsche Rundfunk (WDR). So initiierte der Sender (damals noch NWDR) die Gründung der nach wie vor bestehenden Capella Coloniensis (Debüt 1954). Unter der Schirmherrschaft des WDR wurde Köln zu demZentrum für Alte Musik in Deutschland schlechthin. Lukrative Rundfunkproduktionen (auch im benachbarten Deutschlandfunk Köln) zogen Interpreten in die Rhein-Metropole und führten zur Gründung zahlreicher Ensembles: Musica Antiqua Köln, Concerto Köln, Cantus Cölln, Musica Fiata und Sequentia – um nur die wichtigsten zu nennen. Durch die Gründung der Tage Alter Musik in Herne im Jahr 1976 bereitete auch der WDR der Alten Musik ein Festival-Podium.