Jeder Musiker steht vor der Aufgabe, Notentexte zu deuten – das gilt besonders für das Repertoire der Alten Musik. Das Bewusstsein für eine historisch informierte Aufführungspraxis ist dabei in den letzten Jahren deutlich gewachsen.
Notentexte sind keine Betriebsanleitungen, die ein Musiker nur minutiös umzusetzen hat, um ein musikalisches Werk angemessen zum Klingen zu bringen. Auch eine scheinbar eindeutige Angabe wie die Lautstärkebezeichnung "piano" ist interpretationsbedürftig, denn sie sagt nichts darüber aus, wie "leise" das geforderte Piano sein soll. Jeder Ausführende steht muss einen Notentext deuten, das heißt den Sinn der dort zu findenden Angaben interpretieren.
Kaum Vortragsbezeichnungen in der Alten Musik
Je weiter man sich in der Musikgeschichte zurückbewegt, desto weniger Vortragsbezeichnungen finden sich in den überlieferten Noten. Das bedeutet aber nicht, dass früher undifferenziert gespielt oder gesungen wurde – das Gegenteil ist der Fall. Die Noten enthalten oft nur die unabdingbaren Grundinformationen, die durch ein umfangreiches Wissen über die richtige Art der Ausführung dieser Noten ergänzt wurden. Wie schnell nimmt man den Eingangssatz eines Konzerts, der keine Tempoangabe trägt? An welchen Stellen sind Verzierungen erlaubt oder sogar notwendig? Welche Arten der Artikulation sind für gewisse Notengruppierungen angemessen? Fragen wie diese konnten professionelle Musiker des 18. Jahrhunderts leicht beantworten, denn die Lehre vom richtigen Vortrag und damit das Wissen um nicht notierte Konventionen des Spielens und Singens gehörten zu ihrer Ausbildung.
Aufführungsstile und damit die verschiedenen Parameter dessen, was zur Interpretation von Musik zählt, sind dem historischen Wandel unterworfen. Die Kenntnisse, die etwa ein Musiker um 1730 über die angemessene Aufführung der Musik Johann Sebastian Bachs besaß, war eine andere als die eines Kollegen aus dem späten 19. Jahrhunderts, der diese Musik aus dem Geist seiner Zeit heraus aufführte.
Doch schon im 19. Jahrhundert entstand die Einsicht, dass die Musik einer bestimmten Epoche und ein für diese Zeit spezifischer Aufführungsstil eine Einheit bilden. Man begann mit historischen Instrumenten zu experimentieren, bemühte sich um zuverlässige, von Zusätzen späterer Generationen befreite Notentexte oder studierte historische Quellen, die Auskunft über Teilbereiche der Aufführungspraxis wie etwa die Verzierungslehre geben. Aus den unterschiedlichen Vorstudien zur "Aufführungspraxis alter Musik", so der Titel eines 1931 erstmals erschienenen und überaus einflussreichen Buchs des Musikwissenschaftlers Arnold Schering, entwickelte sich eine eigene Richtung der musikalischen Interpretation, die sogenannte historische Aufführungspraxis, die sich als Gegenbewegung zu traditionellen Richtungen der Musikpraxis verstand.
Die Frage der Authentizität
Bis in die 1980er-Jahre hinein war immer wieder auch von "authentischer Aufführungspraxis" die Rede, eine Formel, die den Wahrheitsanspruch, mit der viele Protagonisten dieser Richtung auftraten, unterstreichen sollte. Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass der Anspruch auf Authentizität, verstanden als vollkommene Vergegenwärtigung des Vergangenen, niemals einzulösen ist. Man kann zwar Aufführungsumstände, Spieltechniken und andere historische Parameter rekonstruieren, nicht aber den gesellschaftlichen und individuellen Erfahrungshintergrund historischer Musiker und Zuhörer – wir hören Musik, die in historischer Aufführungspraxis vorgetragen wird, immer als Menschen unserer Zeit und mit den Erfahrungen, die wir gemacht haben und machen, und das heißt: Wir hören und erleben anders als die Menschen früherer Epochen.
Die Bemühungen um die Etablierung der historischen Aufführungspraxis blieben lange Zeit Taten Einzelner, die zwar von einigen Musikkennern begrüßt und unterstützt, von einer großen Mehrheit aber als museales Gebaren abgelehnt wurden. Zu einer festen Größe im Konzert- und Opernbetrieb und vor allem auch auf den Tonträgermarkt wurden Musiker, die sich um die Wiederbelebung abgebrochener Aufführungstraditionen bemühten, erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Der entscheidende Durchbruch gelang Musikern wie Nikolaus Harnoncourt oder Ensembles wie Musica Antiqua Köln in den 1970er-Jahren, und das nicht zufällig in einer Zeit, in der sich ein epochaler gesellschaftlicher Umbruch ereignete und viele traditionelle Positionen, auch solche der Kunstanschauung, kritisch hinterfragt wurden. Die Berufung auf historische Quellen und der Einsatz historischer Instrumente wirkten dabei paradoxerweise als innovative Momente, die traditionelle Interpretationsansätze zunehmend verdrängten.
Repertoireerweiterung
Als Arbeitfeld der historischen Aufführungspraxis galt zunächst das Repertoire der sogenannten Alten Musik – damit war die Musik vom Mittelalter bis ungefähr zur Mitte des 18. Jahrhunderts gemeint. Ein großer Teil der Werke und Komponisten, die im Kontext von Konzert- und Aufnahmeprojekten überhaupt erst erschlossen wurden, waren den meisten Musikhörern unbekannt, und Werke wie die
Marienvesper oder die Opern Monteverdis wurden als Entdeckungen begeistert aufgenommen. Für große Irritationen und heftige Kontroversen sorgten hingegen die neuen Lesarten von Werken, die Teil des vertrauten Repertoires waren, allen voran die Musik Bachs, die Musiker wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav Leonhardt der Tradition gleichsam entrissen und in vollkommen neuen Deutungen zur Diskussion stellten.
Seit den 1980er-Jahren hat sich das Repertoire der Musiker, die sich der historischen Aufführungspraxis verbunden fühlen, kontinuierlich in Richtung 20. Jahrhundert erweitert. Die Überzeugung, dass die gegenwärtige Musikpraxis in einem ununterbrochenen Traditionszusammenhang mit der Zeit Chopins, Brahms', Wagners und Mahlers stehe, ließ einen historisch informierten Zugang zu dieser Musik lange Zeit als geradezu absurd erscheinen. Forschungen zur Interpretationsgeschichte haben aber eindeutig ergeben, dass das, was als Tradition des 19. Jahrhunderts galt, in Wirklichkeit eine Entwicklung der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg darstellt.
Mittlerweile beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass nicht nur die Musik Haydns, Mozarts und Beethovens, sondern auch die Symphonien Anton Bruckners oder Ravels berühmter
Bolero in gewisser Weise zur Alten Musik gehören. Gespielt auf Instrumenten der Entstehungszeit und nach den Regeln des musikalischen Vortrags, auf die der Komponist sich beim Schreiben seiner Musik bezog, erklingen auch diese Werke deutlich anders als in traditionellen Interpretationen.
Wie stark der Einfluss der historischen Aufführungspraxis ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass viele der von ihr entwickelten Aufführungsstandards inzwischen Teil eines allgemeinen Aufführungsstils geworden sind. Auch viele traditionell orientierte Ensembles benutzen mittlerweile eine detailorientierte Artikulation, wissen Vibrato zu dosieren und bemühen sich um eine schlanke, durchsichtige Tongebung. Die ehemaligen Außenseiter sind in der Mitte des Musiklebens angekommen.