Alte Musik 2015
Aus der Tiefe der Zeit

Noch längst sind nicht alle weißen Flecken auf der Landkarte der Alten Musik getilgt. Neben Entdeckungen für das Repertoire brachte das Jahr 2015 auch vergessene Klangfarben und Neues aus der Kunst der Improvisation ans Licht.
„Alles, was lange währt, ist leise“: Diesen Ausspruch von Joachim Ringelnatz darf man getrost als Leitspruch für das Alte-Musik-Jahr 2015 anwenden: Auf ein Jahr mithin, das einmal nicht von lautstark gefeierten Jubiläen großer Komponisten bestimmt war, in dem aber dafür viele Entwicklungen, welche für die Lebendigkeit und Attraktivität der Alte-Musik-Bewegung notwendig sind, um so beharrlicher und inspirierender weitergeführt wurden.
Um wahrhaft lebendig zu sein, muss Musik als lebende Sprache begriffen werden – und aus diesem Grund rückt dabei die Fähigkeit zur Improvisation, die bis ins 19. Jahrhundert zu den Grundvoraussetzungen des Musikerberufs gehörte, auch in der Alten Musik stärker in den Fokus. Zu einem wichtigen Treffpunkt aller an der stilgerechten Improvisationspraxis Interessierten hat sich LivFE!, das von Martin Ehrhardt initiierte Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik, entwickelt. Vom 17. bis 20. September 2015 wurden hier von der mehrstimmigen vokalen Improvisation, wie sie das Ensemble Obsidienne vorführte, bis hin zum freien Fantasieren à la Carl Philipp Emanuel Bachs in Workshops, Vorträgen und Konzerten eine Vielzahl von Aspekten improvisierenden Musizierens vorgeführt und beleuchtet. Dass die „reine“, das heißt nicht auf Crossover abzielende Improvisationspraxis auch auf dem CD-Markt angekommen ist, dafür ist das Album fantasia baroque von Alexander und Alexandra Grychtolik ein wichtiges Zeugnis. Vorbildlich setzte sich auch der Telemann-Wettbewerb in Magdeburg für die Förderung und Würdigung der zur Improvisationspraxis gehörenden Kunst der freien Verzierung ein, in dem sie dem Flötisten Jan van Hoecke einen Sonderpreis für seine Verzierungskunst verlieh.
Mit dem Klavier ins 19. Jahrhundert
Beharrlich verschiebt sich die Grenze dessen, was wir unter Alte Musik verstehen, in das 19. und sogar das beginnende 20. Jahrhundert. Nirgendwo ist diese Entwicklung so deutlich vernehmbar wie im Bereich der Klaviermusik. Die Kenntnis eines Klavierinstruments vor der Entwicklung des modernen Konzertflügels in den 1850er Jahren ist längst nicht mehr nur Expertensache, wenngleich die Frage, wie mit den höchst verschiedenen Modellen in einer von Dekade zu Dekade mit immer neuen Innovationen aufwartenden Epoche adäquat umzugehen ist, noch nicht ansatzweise beantwortet ist. Zu den wichtigsten Beiträgen zur Erkundung historischer Klavierinstrumente gehört Tobias Kochs Einspielung sämtlicher Klavierstücke Beethovens auf Flügeln von Schmahl, Rosenberger, Streicher und Graf sowie einer transportablen Orphika. Mit einer 3 CDs umfassenden Produktion von Schumann-Werken auf einem Erard-Flügel von 1837 hat auch der Pianist Andreas Staier einen wichtigen Beitrag zur Neubewertung der Klanglichkeit romantischen Kernrepertoires für Klavier vorgelegt. Dass die Persönlichkeit eines historischen Instruments durchaus gleichrangig neben der Persönlichkeit eines historischen Komponisten steht, dafür legte Gerrit Zitterbart mit seinem Album 1829 Zeugnis ab, das einem Instrument von Nanette Streicher gewidmet ist.Durch das Jahr 2015 zieht sich die Diskussion um adäquate Präsentationsformen Alter Musik. Zwei Motivationen, die sich in der Praxis durchaus verbinden, zeichnen sich dabei ab: Die eine Seite ist daran interessiert, die Wirkung historischer Werke und Instrumente zumindest teilweise in einer ihrem ursprünglichen Kontext ähnlichen Situation erlebbar zu machen. Der andere Ansatz hingegen versucht, von den teils unbekannten, teils fehlenden Normen der Aufführungspraxis historischer Musik zu profitieren, um bewusst neue Kontexte zu kreieren. Eine latent politische Dimension erhalten diese Erkundungen dadurch, dass ein Großteil der Alten Musik aus der Zeit vor der Aufklärung stammt und sich somit die Frage stellt, wie wir etwa mit den religiösen voraufklärerischen Botschaften unseres eigenen kulturellen Erbes umgehen.
Eine ebenso wirkungsstarke wie bedenkenswerte, collageartige Aufführung mit dem Titel Aus der Tiefe der Zeit hat der Konzertdesigner Folkert Uhde am 12. Februar 2015 im Berliner Radialsystem geschaffen. Mit der Audi Jugendchorakademie, den Singphonikern und dem auf Schalmei und Akkordeon bestehenden Ensemble Mixtura traten hier Guillaume de Machauts Messe de Nostre Dame sowie Frank Martins doppelchörige Messe mit neuen Kompositionen von Samir Odeh-Tamimi in einen unmittelbaren, respektvollen Dialog, in den auch unterschiedlichste Lichtsituationen und Aufstellungen im Raum mit einbezogen wurden. Kontroverser diskutiert wurde die politisch ehrgeizigere Aufführung Johannespassion-Judasprozess, die im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit sowie des Kölner Fests zur Alten Musik am 5. März in der Kölner Trinitatiskirche mit Concerto Köln, dem Chor des Bach-Vereins Köln unter der Leitung von Thomas Neuhoff und in der Regie Eckhardt Kruse-Seilers szenisch präsentiert wurde. Strittig blieb, inwieweit sich Bibelwort, Zwischentexte von Walter Jens und Breakdance-Einlagen zu einem kohärenten neuen Ganzen fügten.
Entdeckungen für das Repertoire
Neben dem Experimentieren mit Konzertformen und alten Instrumenten gehört das Aufspüren unbekannten Repertoires zum Selbstverständnis der Alte-Musik-Szene. Nicht nur die Erstaufführung – bzw. Ersteinspielung – steht dabei im Vordergrund des Interesses, wichtiger ist der Beweis einer Repertoiretauglichkeit. Die bedeutendste Werk-Entdeckung eines im deutschsprachigen Kulturraum entstandenen Werkes war Agostino Steffanis für München 1688 komponierte Oper Niobe, Regina di Tebe, die als Gastspiel des Boston Early Music Festivals im Konzerthaus Dortmund zu hören war. Ein Hauptwerk der deutschsprachigen Barockoper brachten dagegen René Jacobs und die Akademie für Alte Musik an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin wieder zu Ehren: Die Last-tragende Liebe oder Emma und Eginhard. Galten die Werke der Hamburger Oper, für die Telemann das Werk verfasste, lange Zeit wegen ihres Mixes aus verschiedenen Sprachen und ihrer satirischen Nebenfiguren als nicht völlig satisfaktionsfähig, um als bedeutendes Werk anerkannt zu werden, konnte die Inszenierung in der Regie von Eva-Maria Höckmayr den politisch kritischen und formal shakespearschen Geist der Tragikomödie um den Schreiber Karls des Großen und seiner unerreichbaren adligen Geliebten erneut ins Bewusstsein bringen und die Repertoiretauglichkeit des Werks unter Beweis stellen.Trauer aus neuer Perspektive
Während die Komponistenjubiläen des Jahres für den an Klangfarben interessierten Johann Melchior Molter (250. Todestag), den bedeutenden Bachvorläufer Nikolaus Bruhns (350. Geburtstag) sowie den vielseitigen Seth Calvisius (400. Todestag) keine bahnbrechenden Neuentdeckungen zu Tage brachten, konnte pünktlich zum 900. Stadtjubiläum von Köthen ein verschollenes Werk Johann Sebastian Bachs in einer neuen, vollständigen Rekonstruktion von Alexander Grychtolik live und als CD vorgestellt werden: Es handelt sich um die sogenannte Köthener Trauermusik auf Bachs Dienstherrn Leopold von Anhalt-Köthen, von der zahlreiche Teile später in die Matthäuspassion übernommen wurden und deren Kenntnis somit auch die Perspektive auf die bedeutende Passion erweitert.Was den Bereich der Interpreten betrifft, konnten sich auch 2015 besonders Countertenöre großer Beachtung bei Hörern und Presse sicher sein. Aus dem deutschsprachigen Bereich stand dabei der Countertenor Valer Sabadus mit seiner in allen Lagen ausgeglichenen und klangstarken Stimme im Fokus des Interesses, doch auch der Franzose Philippe Jaroussky konnte mit seinem ersten Konzert in deutscher Sprache auf sich aufmerksam machen. Durch ihre exquisite Interpretation barocker Texte, Vielseitigkeit und Bereitschaft zu innovativen Konzertprojekten machte einmal mehr die Sopranistin Dorothee Mields auf sich aufmerksam, während die Violinisten Leila Schayegh sowie Johannes Pramsohler besonders durch hervorragende Verzierungskunst sowie ihren subtilen Umgang mit dem Repertoire aus der oft zu einseitig aus der hochbarocken oder klassischen Sicht interpretierten Übergangszeit des galanten Stils überzeugten. Eine Zeitreise mit Authentizitätsgarantie kann freilich keine Interpretation liefern – doch immerhin können die Freunde Alter Musik dank der Wiederentdeckung des detailreichen und anschaulichen Reisetagebuchs des Orgelbauers Johann Andreas Silbermann zumindest lesend eine Zeitreise in das Musikleben des 18. Jahrhunderts unternehmen.