Alte Musik 2016
Grenzgänger in einer sich wandelnden Welt

Capella de la Torre

Das Thema der offenen und der geschlossenen Grenzen, das Thema der Grenzüberschreitungen – es dominierte nicht nur den politischen Diskurs des Jahres 2016 und wirbelte das Parteiengefüge in Deutschland erheblich durcheinander, es spielte im vergangenen Jahr auch in der Alte-Musik-Bewegung eine zentrale Rolle. Allerdings in einem ganz  anderen Sinn: Geht es hier doch nicht um nationale Grenzen, sondern um die Grenzen der Alten Musik, um Grenzüberschreitungen hin zu anderen Epochen und Stilen bis hin zu Folk, Pop und Jazz.

War das zentrale Motiv der Historischen Aufführungspraxis über Jahrzehnte hinweg die möglichst genaue Rekonstruktion der ursprünglichen Aufführungsbedingungen eines Werks, von der Wahl der originalen Partituren und der zeittypischen Instrumente über Besetzungs- und Tempofragen bis hin zur Wiederbelebung der epochenspezifischen Phrasierungen und Verzierungen, so pflegen mehr und mehr Interpreten heute einen kreativen Umgang mit diesen Erkenntnissen – im Wissen um die Unmöglichkeit einer hundertprozentigen Rekonstruktion historischer Spiel- und Rezeptionsweisen und mit Verweis auf den relativ hohen Anteil nicht schriftlich fixierter, improvisatorischer Elemente in der Musik zwischen Mittelalter und Mozart. Damit einher geht eine Bedeutungsverschiebung beim Begriff der ‚Authentizität‘: ging es früher darum, möglichst „authentisch“ im Sinne der Intentionen des Komponisten zu spielen, steht nun die „Authentizität“ des Interpreten im Vordergrund. Eine solche Grenzöffnung birgt naturgemäß – wie im politischen Bereich - Chancen und Risiken zugleich.

Kaum ein Festival ohne Crossover

Tatsache ist, dass sich mittlerweile kaum noch ein Alte-Musik-Festival auf Originalklang-Purismus festlegen lässt. Selbst bei den traditionsreichen Tagen Alter Musik Regensburg wurde 2016 Flamenco getanzt, das noch junge Kölner Fest für Alte Musik (getragen von einem Zusammenschluss Kölner Alte-Musik-Akteure) eröffnete mit Underground-Songs aus der Zeit des US-amerikanischen Bürgerkriegs, bei den Händel-Festspielen Göttingen wurde Händel verjazzt, und das Heinrich Schütz Musikfest lud als artist in residence mit Christina Pluhar eine Künstlerin ein, die sich insbesondere durch spektakuläre Crossover-Projekte einen Namen gemacht hat – und folglich bei ihren Konzerten in Gera, Dresden und Weißenfels zwar viel traditionelle Musik des Mittelmeerraums präsentierte, aber eben keinen Schütz.
 
Man kann diese Tendenz als Verfallserscheinung brandmarken - in einer Zeit, in der es nicht mehr möglich scheint, allein durch genaues Quellenstudium eine grundlegend neue Lesart etwa von Bachs Kantaten vorzulegen, wie dies dem (2016 verstorbenen) großen Originalklang-Pionier Nikolaus Harnoncourt einst gelang. Aber solche Einwände verblassen, wenn man einmal erlebt hat, mit welch hinreißender Qualität und Vitalität ein Ensemble wie etwa Christina Pluhars L’Arpeggiata das Publikum begeistert. Oder wenn man – zum Beispiel bei den diesjährigen Tagen Alter Musik in Herne - dem Ensemble Graindelavoix über die Schulter schaut, wie es sich mit einer an folkloristischen Traditionen geschulten Stimmästhetik der Messe von Guillaume de Machaut annähert – musikhistorisch anfechtbar, aber von kaum zu überbietender Intensität.

Preisträger ohne Scheuklappen

Es kommt also einmal mehr auf die konkrete Künstlerpersönlichkeit an – und da ist inzwischen eine Generation auf den Plan getreten, die sich mit großer Selbstverständlichkeit und ohne Berührungsängste in unterschiedlichen Genres bewegt. Unter den ECHO-Preisträgern 2016 befinden sich - neben Alte-Musik-Größen wie Jordi Savall oder Andreas Staier - zum Beispiel der Blockflötist Stefan Temmingh, der neben Barockmusik auch zeitgenössische Musik im Repertoire hat, oder die Schalmei-Virtuosin Katharina Bäuml mit ihrem Renaissance-Ensemble Capella de la Torre, die mit sich mit ihrem Instrument voller Neugier auch auf Expeditionen in den Bereich des Jazz wie der Neuen Musik wagt. Und den Förderpreis Deutschlandfunk beim Bremer Musikfest erhielt der junge Cembalist Jean Rondeau für eine CD, auf der er sich der Musik Bachs mit Respekt, aber auch mit Kreativität nähert – und dabei zum Beispiel die Brahmssche Bearbeitung von Bachs Chaconne nicht auf dem Klavier, sondern auf dem Cembalo interpretiert.

Eklat in Köln

Natürlich bedarf es bei solchen Grenzüberschreitungen auch eines aufgeschlossenen Publikums. Wo diese Offenheit fehlt, kann es schlimmstenfalls zum Eklat kommen - wie im Februar 2016 in der Kölner Philharmonie bei einem Konzert des Cembalisten Mahan Esfahani mit dem Concerto Köln. Die Musiker hatten neben Stücken der Bach-Familie auch moderat moderne Musik aufs Programm gesetzt, die zunächst freundlich beklatscht wurden. Als Esfahani dann aber seine eigene Transkription einer frühen Komposition von Steve Reich zu spielen begann, kam es zu Unruhe und Tumulten im Saal. Der Lärmpegel stieg dabei so stark, dass der iranische Cembalist zum Abbruch gezwungen war – ein in jüngerer Vergangenheit beispielloser Vorgang, der von den bundesweiten Feuilletons rasch aufgegriffen wurde und einhellig auf Entsetzen stieß.
 
In dieser Debatte wurde die Reaktion von Teilen des Publikums überwiegend als Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit gedeutet – insbesondere von Journalisten, die nicht selbst vor Ort waren. Da die erste Konzerthälfte allerdings keinerlei negative Reaktionen ausgelöst hatte, liegt es näher (worauf zum Beispiel Concerto-Köln-Geschäftsführer Jochen Schäfsmeier zu Recht hinwies), die „Fremdenfeindlichkeit“ nicht auf den Musiker, sondern vielmehr auf das „fremde“, als experimentell empfundene Stück von Steve Reich zu beziehen. Anstatt das Geschehen vor dem Hintergrund einer politisch aufgeheizten Atmosphäre reflexhaft in Kategorien von Xenophobie und Rassismus abzuhandeln, wäre eine Diskussion produktiver gewesen, die danach gefragt hätte, wie es kommen kann, dass ein 50 Jahre altes Stück derartige Reaktionen provoziert – wie es sein kann, dass Zuhörer trotz langjähriger Abonnementkonzerterfahrung einer solchen Musik offenbar nie zuvor begegnet waren.

Grenzensprengende Konzertformen

Beim Versuch, die verkrusteten Strukturen des traditionellen Klassikbetriebs aufzubrechen, die Grenzen der üblichen Konzertsituation zu überschreiten und dabei neues Publikum hinzu zu gewinnen, kommen gerade aus der Alte-Musik-Szene wesentliche Impulse. Die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci zum Beispiel, die 2016 mit dem Centre de musique baroque de Versailles kooperierten, bieten schon seit Jahren Fahrradkonzerte an, oder auch öffentliche Orchesterproben, live kommentiert via Audioguide. Die Händel-Festspiele Göttingen luden in diesem Jahr zu einem frühmorgendlichen Sonnenaufgangs-Konzert an den Seeburger See. Wandelkonzerte und familienfreundliche Tage der offenen Tür (wie beim Kölner Fest für Alte Musik) gehören mittlerweile fast schon zum Standard. Und zwischen dem Berliner Radialsystem, den Köthener Bachfesttagen und der Internationalen Orgelwoche Nürnberg profiliert sich Folkert Uhde, einst Manager der Akademie für Alte Musik, mit hippen Ideen und gut geölter Promotion-Maschinerie als „Konzertdesigner“.

Musikalische Höhepunkte

Was aber auch hier am Ende zählt, ist die musikalische Substanz. Und um die ist es nach wie vor generell gut bestellt in Deutschland – trotz des steigenden Kostendrucks, trotz der Konkurrenz durch besser subventionierte Originalklang-Orchester im Ausland, trotz nach wie vor fehlender übergeordneter Strukturen, die eine effizientere Interessensvertretung gewährleisten könnten. Am Ende eines Jahres, wenn sich alle Aufregung gelegt und der Theaterdampf verzogen hat, sind es dann womöglich gar nicht die Grenzüberschreitungen, die den bleibendsten Eindruck hinterlassen haben. Sondern zum Beispiel ein „altmodisches“ Festival wie die Tage Alter Musik Regensburg, die sich mit bewundernswerter Hartnäckigkeit allem Starrummel, allen modischen Konzertinszenierungen verweigern und einzig und allein auf die musikalische Qualität setzen. Trotzdem – oder deswegen – ist der Publikumszuspruch überwältigend, zum Beispiel beim fulminanten Konzert des Dresdner Kammerchors mit den klangprächtigen „Psalmen Davids“ von Schütz (für seine Heinrich-Schütz-Gesamtaufnahme wurde Dirigent Hans-Christoph Rademann übrigens jüngst auch mit dem Jahrespreis 2016 der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet). Auch bei den Salzburger Festspielen stach in diesem Jahr ein Konzert hervor, das sich auf den Kern des Historischen Aufführungspraxis besann: die Aufführung von Bibers Missa Salisburgensis durch Václav Luks und das Collegium 1704 an dem Ort, für den das monumentale Werk einst komponiert wurde, den Salzburger Dom. Tags zuvor hatte Jordi Savall in einer bewegenden Rede in der Kollegienkirche an die Opfer der Terroranschläge erinnert, aber auch an die vielen Flüchtlinge, für die das Mittelmeer zum Grab wurde. Im Konzert vereinte sich dann sein Ensemble Le Concert des Nations mit Gastmusikern aus Griechenland, Armenien und dem Orient zu einem Miteinander der Kulturen – vielleicht das hoffnungsvollste Beispiel für grenzüberschreitendes Musizieren in diesem spannungsvollen Jahr 2016.