Alte Musik 2011
Das Abenteuer geht weiter
Alte Musik war auch 2011 in Deutschland ein höchst vitales Thema. Es wurden nicht nur Werke von Johann Adolf Hasse und Johann Ludwig Bach wiederentdeckt – auch einige Barockensembles machten besonders auf sich aufmerksam.

Natürlich an vielem: An der schieren Masse guter Musik, die sich trotz aller Verluste erhalten hat. An der beharrlichen Ausforschung historischer Aufführungsumstände und -bedingungen, die immer wieder überraschende Erkenntnisse ans Tageslicht bringt. An einem wachen Publikum, das intelligentes Alte-Musik-"Multikulti" zu schätzen und zu genießen weiß. Es ist jedenfalls auch 2011 noch längst nicht alles gesagt in Sachen Alte Musik, noch längst nicht alles ausgegraben, noch längst nicht alles "verkostet".
Schon gar nicht im deutschen Kulturraum. Viele Jahrhunderte politischer und konfessioneller Zersplitterung haben hier eine musikalische Vielfalt hinterlassen wie in kaum einer anderen europäischen Kulturlandschaft. Die angemessene Würdigung dieses Reichtums auch jenseits solcher "Säulenheiligen" wie Orlando di Lasso, Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach oder Georg Friedrich Händel ist ein wunderbarer Trend der letzten Jahre.
Ein Teurer aus Sachsen
Eine der faszinierenden Entdeckungen 2011 waren die Opern des Mannes, der für die Zeitgenossen der größte Opernkomponist seiner Epoche war: Johann Adolf Hasse (1699 - 1783), der "caro Sassone", der "teure Sachse". Warum gekrönte Häupter wie Maria Theresia oder Friedrich der Große sich um ihn rissen und Geistesgrößen wie Voltaire zu seinen Fans zählten – man konnte es ahnen, etwa im Hasse gewidmeten Arien-Gala-Konzert bei den Händel-Festspielen in Halle, in dem die Mezzosopranistin Vivica Genaux und Concerto Köln mit Virtuosität und Emotion Hasse ohne weiteres auf eine musikalische Qualitätsstufe mit dem älteren Landsmann Händel stellten.Hasse-Begeisterung auch in München: Hier brachten die Bayerische Theaterakademie August Everding und die Hochschule für Musik und Theater, unterstützt von der unermüdlichen Hasse-Gesellschaft, Hasses "Didone abbandonata" auf die Bühne des Prinzregententheaters: Was für eine Dramatik, was für ein Feuerwerk der Gefühle am Ende des Spätbarocks!
Gefeiert wurde der rumänisch-deutsche Counter Valer Barna-Sabadus, gefeiert wurden seine Sänger-Mitstreiter von Akademie und Hochschule, das Regie-Team um Balász Kovalik, und gefeiert wurde nicht zuletzt die Hofkapelle München, die sich unter der Leitung von Rüdiger Lotter in die Erste Liga der deutschen Alte-Musik-Ensembles gespielt hat.
Quirlig, findig: Jüngere Orchester im Aufwind
Auch in der Orchesterszene wird die Fackel weitergereicht. Spitzenensembles der "Gründerzeit" wie die Musica Antiqua Köln haben sich aufgelöst, renommierte Orchester der zweiten und dritten Generation wie Concerto Köln und das Freiburger Barockorchester haben es sich mit einer risikofreien Weihnachts-CD oder der x-ten Aufnahme der Bach'schen Orchestersuiten teilweise ein bisschen gemütlich eingerichtet. (Die Freiburger ernteten andererseits aber verdient Lob für ihre vitale, feine Einspielung von Klavierkonzerten Carl Philipp Emanuel Bachs mit dem Hammerklavier-Spezialisten Andreas Staier.)Der Funke ist aber längst übergesprungen auf kleinere Ensembles: Das Elbipolis Barockorchester Hamburg etwa, das 2011 in Konzerten und auf einer gemeinsam mit dem Westdeutschen Rundfunk produzierten CD für eine weitere wunderbare Ausgrabung verantwortlich war: Die Musicalischen Concerte des Händel-Zeitgenossen und -Kollegen Johann Christian Schieferdecker, der ab 1707 als Organist und "Werckmeister" an der Marienkirche zu Lübeck Nachfolger Dietrich Buxtehudes war – kraftvolle Spätbarock-Musik von großer Schönheit.
Dass sie auch sonst für Wagnisse und Grenzüberschreitungen gut sind, bewiesen die Musiker von Elbipolis auch beim Kissinger Musik-Marathon im Oktober 2011 mit dem Elektronikkünstler Brezel Göring: Barockmusik kollidiert mit elektronischen Loops, wer hätte erwartet, dass das so faszinierend wird?
Bei La Stagione Frankfurt ging 2011 die farbenreiche Gesamteinspielung aller Bläser-Konzerte Georg Philipp Telemanns weiter, und bei den 27. Tagen Alter Musik in Herne brach das Orchester unter der Leitung von Michael Schneider schwungvoll und überzeugend eine Lanze für die Musik der Gebrüder Graun.
Ebenfalls aus Frankfurt kommt das Main-Barockorchester, das in den vergangenen Jahren bereits schöne CDs mit Werken deutscher Komponisten zwischen Spätbarock und Vorklassik aufgenommen hat, etwa von Johann Melchior Molter, Johann Wilhelm Hertel oder Johann Friedrich Fasch.
In Sachen Fasch war das Main-Barockorchester auch 2011 wieder unterwegs, bei den Internationalen Fasch-Festtagen in Zerbst, wo Fasch als Kapellmeister einen Großteil seines Lebens verbrachte. Unter Leitung seines ersten Geigers Martin Jopp spielte es im Eröffnungskonzert im April unter anderem Faschs prächtige Ouvertüre d-moll – ein überzeugendes Plädoyer für einen großen Komponisten im Schlagschatten Bachs und Händels.
Bach und Familie – kein Ende
Aber auch Bach gehörte zu den Entdeckungen des Jahres 2011 – in diesem Fall aber Johann Sebastian Bachs entfernter Meininger Vetter Johann Ludwig Bach. Dessen affektreiche, hochoriginelle Trauermusik für Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen spielten der RIAS-Kammerchor und die Akademie für Alte Musik Berlin unter Hans-Christoph Rademann erstmals auf CD ein und wurden dafür mit Preisen überhäuft.Bei der Bachwoche Ansbach 2011 hingegen erntete Rademann mit "seinem" Dresdner Kammerchor und dem Dresdner Barockorchester einhelligen Beifall für eine klangschöne, duftige Interpretation von (Johann Sebastian) Bachs h-moll-Messe und für eine meditativ-bewegende Deutung von Heinrich Schütz' Musikalischen Exequien im idealen Ambiente des mittelalterlichen Münsters im mittelfränkischen Heilsbronn.
Ganz anders ein Bach-Konzert bei den 27. Tagen Alter Musik Regensburg, bei dem vor allem die szenische Umsetzung das Publikum polarisierte: Erzengel im Gogo-Kostüm, Jesus und Maria Magdalena beim Tango-Tanzen – gewagt? oder geschmacklos? oder einfach banal? Es zwang zur Stellungnahme, gut so.
Dialog und Disput der Kulturen
Denn eine lebendige Alte-Musik-Szene muss alte Seh-und Hörgewohnheiten aufbrechen, neue Zusammenhänge herstellen. Das montalbâne-Festival in Freyburg in Sachsen-Anhalt etwa, eines der renommierten Spezial-Festivals für mittelalterliche Musik, stellte 2011 einer Marienmesse der Hildegard von Bingen klassische indische Tempelgesänge gegenüber, und über Traditionen, Zeiten und Kontinente hinweg schienen sich die Kontemplativen die Hände zu reichen.Ähnlich groß war die Bandbreite 2011 beim Festival Fränkischer Sommer - Musica Franconia: Minnesang und Orient war eines der Motti, eingelöst wurde es unter anderem vom Pera-Ensemble aus Istanbul, das italienische Barockmusik mit den Klängen der Serails konfrontierte. In der Nürnberger Sebalduskirche, dem Ort seines Wirkens, huldigte man indes dem großen Johann Pachelbel.
Erfolgsmodell Kooperation
Wie aus der Kooperation mehrerer Partner Schwung für die Alte Musik entsteht, auch dafür war 2011 Nürnberg ein Beispiel: Die Hochschule für Musik veranstaltete ihre Tage Alter Musik. Gemeinsam mit und im Germanischen Nationalmuseum mit seiner Musikinstrumentensammlung fand ein vielbeachteter Workshop für Historische Holzblasinstrumente statt, bei dem der Barock-Fagottist Sergio Azzolini Meisterklassen gab. Und der Fagott-Magier Azzolini war dann auch noch mit seinem Ensemble L'Aura Soave Cremona bei der Konzertreihe Musica Antiqua zu hören, die das Museum und der Bayerische Rundfunk, Studio Franken, zusammen veranstalten.Volksmusik statt Alte Musik?!
Für ein renommiertes deutsches Festival mit dem Schwerpunkt Alte Musik / Historische Aufführungspraxis kam 2011 das Aus: 19 Jahre hat der Dirigent Bruno Weil mit "Klang & Raum" in Kloster Irsee mit spannenden Programmen viele Besucher ins Ostallgäu gelockt. Nun sollte auf Wunsch der kommunalen Zuschussgeber deftig gespart werden – Weil verabschiedete sich daraufhin mit Haydns Trauer-Symphonie. Wie man hört, tragen sich die kommunalen Entscheidungsträger nun mit dem Gedanken, als Nachfolger für Klang & Raum ein Volksmusik-Festival zu etablieren.Gemeinsinn und Orgelpfeifen
Doch etwas Positives zum Schluss: In der St.-Mauritius-Kirche von Hollern im Alten Land bei Hamburg ist 2011 eine der letzten noch nicht renovierten Orgeln von Arp Schnitger (1648 – 1719) restauriert und Ende August wieder eingeweiht worden. Etwa die Hälfte der 24 Register stammte noch von dem "Stradivari der norddeutschen Barockorgel", unter anderem ein wunderbar singender Prinzipal.Die Firma Ahrend hat das gesamte Instrument so weit wie möglich in seinen historischen Originalzustand zurückgeführt, alte, terzreine Stimmung inklusive – zukünftig ein idealer Ort, um die Orgelmusik Buxtehudes, Weckmanns oder Bruhns' in intimem, authentischem Rahmen zu erleben.
Gestemmt wurde das Großprojekt gemeinsam von einer Vielzahl von Unterstützern von der Landeskirche über den Landkreis und verschiedene Stiftungen bis hin zum Lions-Club und privaten Sponsoren. Sie alle, und nicht zuletzt auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ohne die manches der hier erwähnten Projekte nicht zustande gekommen wäre, wirkten daran mit, dass 2011 in Deutschland ein gutes Jahr für die Alte Musik war: ein Kapital des kulturellen Gemeinsinns, das man (siehe Irsee) auch zukünftig nicht leichtfertig verspielen sollte.