Die Familie Bach
Johann Sebastian Bach und die „Musicalisch-Bachische Familie“

Johann Sebastian Bach spielt für die Musikgeschichte eine kaum zu überschätzende Rolle. Doch sein Künstlertum ist auch Teil einer familien- und zeitgeschichtlichen Traditionslinie: Mehr als zwei Jahrhunderte lang prägte die Familie Bach die musikalischen Entwicklungen insbesondere im Raum Thüringen.

Johann Sebastian Bach mit seinen Söhnen, Deutschland, 1730; Johann Sebastian Bach mit seinen Söhnen, Deutschland, 1730; | Foto: DEA PICTURE Library; Kollektion De Agostini "Johann Sebastian Bach, gehöret zu einem Geschlechte, welchem Liebe und Geschicklichkeit zur Musick, gleichsam als ein allgemeines Geschenck, für alle seine Mitglieder, von der Natur mitgetheilet zu seyn scheinen. So viel ist gewiß, daß von Veit Bachen, dem Stammvater dieses Geschlechts, an, alle seine Nachkommen, nun schon bis ins siebende Glied, der Musik ergeben gewesen, auch alle, nur etwan ein Paar davon ausgenommen, Profession davon gemacht haben." Mit diesen Worten beginnt der 1754 von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola verfasste Nachruf auf Johann Sebastian Bach. Bach, der "weltberühmte" Komponist und Virtuose, wird hier erstmalig, zugleich aber sehr nachdrücklich in den familiären und zeitgeschichtlichen Kontext eingeordnet, der die Grundlage seines Künstlertums bildete.

Unter den großen Musikerfamilien des 17. und 18. Jahrhunderts nimmt die Bach-Familie an Zahl und Bedeutung der aus ihr hervorgegangenen Musiker eine überragende Stellung ein. Über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg bekleideten ihre Mitglieder an zahlreichen Stätten Thüringens einflussreiche musikalische Ämter und prägten maßgeblich das kulturelle Leben dieses Landstrichs. Ihr Wirkungsraum erstreckte sich über das Gebiet der ernestinisch-sächsischen Herzog- und Fürstentümer Eisenach, Gotha, Meiningen und Weimar, der Grafschaften Schwarzburg-Arnstadt, Schwarzburg-Sondershausen und Hohenlohe-Gleichen sowie der zum kurmainzischen Territorium gehörigen Stadt Erfurt. Von diesen dichtgestreuten kleineren und mittleren Höfen, aber auch von den Kirchen und den ihnen angegliederten Schulen sowie schließlich den Städten wurde die überaus reiche Musikpflege der Region getragen; dabei waren die von diesen drei Bereichen geförderten Musikinstitutionen meist sehr eng miteinander verknüpft.

Eine Familie von Berufsmusikern

Die ersten Berufsmusiker der Familie lassen sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts nachweisen, ihr letzter namhafter Vertreter war der 1845 verstorbene Wilhelm Friedrich Ernst Bach. In den ersten Generationen dominierten Spielleute, Stadtpfeifer und einfache Hofmusiker, doch etwa ab der Mitte des 17. Jahrhunderts begann mit den ersten Organisten der Familie ein steter sozialer und künstlerischer Aufstieg. Bereits in der nächsten Generation sind auch Familienangehörige mit akademischer Bildung anzutreffen, die das – neben musikalischen auch pädagogische Qualifikationen voraussetzende – Kantorenamt bekleideten. Bei den Organisten und Kantoren der zwischen 1650 und 1700 aktiven Generationen lassen sich auch die frühesten Zeugnisse kompositorischer Tätigkeit nachweisen.

An der Schwelle zum 18. Jahrhundert bekleideten Mitglieder der Familie auch die seinerzeit höchsten musikalischen Ämter des höfischen Kapellmeisters und städtischen Musikdirektors: Johann Sebastian Bach war von 1717 bis 1723 Kapellmeister in Köthen und danach "Director Musices" in Leipzig, sein Vetter Johann Ludwig Bach stieg in der Hierarchie der Meininger Hofkapelle vom einfachen Musikus bis zum Kapellmeister auf. Leitende städtische Musiker finden sich auch in der Generation der Bach-Söhne: Wilhelm Friedemann Bach bekleidete das Musikdirektorat in Halle und sein Bruder Carl Philipp Emanuel die entsprechende Position in Hamburg. Erst mit dem Niedergang der Hofkultur und der institutionalisierten Musikpflege der Städte und Kirchen gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlosch allmählich auch die Bedeutung der Musikerfamilie Bach.

Das "Alt-Bachische Archiv": Frühe Kompositionen der Bach-Familie

Fragt man nach den Wurzeln von Johann Sebastian Bachs Kunst, so richtet sich der Blick unweigerlich auf seine komponierenden Vorfahren. Doch eine genauere Orientierung fällt nicht leicht, denn es handelt sich hier um Gestalten, die bereits weitgehend ins Dunkel der Geschichte eingetaucht sind und deren Lebensspuren die Ungunst der Zeitläufte nahezu verweht hat. Dass wir überhaupt etwas über die musikalischen Leistungen der älteren Bach-Familie wissen, ist im Wesentlichen dem Sammeleifer Johann Sebastian Bachs zu verdanken, dessen Notenbibliothek etwa zwanzig geistliche Vokalwerke seiner Vorfahren bewahrte. Für diese familiengeschichtliche Sammlung hat sich seit dem späten 18. Jahrhundert die Bezeichnung "Alt-Bachisches Archiv" eingebürgert. Die Originale, ehemals in der Bibliothek der Sing-Akademie zu Berlin aufbewahrt, waren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für mehr als 50 Jahre verschollen und konnten erst 1999 im Staatsarchiv der Ukraine in Kiew wieder aufgefunden werden. Mittlerweile ist ihre Rückführung nach Berlin erfolgt.

Insgesamt handelt es sich beim "Alt-Bachischen Archiv" um etwa 200 kleinformatige, brüchige und vergilbte Notenblätter, übersät mit kunstvoll verschnörkelten Schriftzeichen. Für Johann Sebastian Bach waren diese Stücke zweifellos mehr als bloße familiäre Andenken; sie halfen ihm offenbar, seinen eigenen historischen und künstlerischen Ort zu bestimmen. An ihnen maß er sein Können, in ihre Reihe mochte er sein eigenes Schaffen eingeordnet wissen als Mitglied eines traditionsreichen Geschlechts. Bach nahm sich der Stücke seiner Vorfahren, die längst ihren Repertoirecharakter eingebüßt hatten und nur noch familien- und kulturgeschichtlichen Wert besaßen, liebevoll an - er schrieb hier und da neue Umschläge, berichtigte in den alten Partituren Fehler und ergänzte unvollständig unterlegte Gesangstexte; ja er stellte teilweise sogar neues Aufführungsmaterial her und wagte es, einige der alten Werke in den Leipziger Hauptkirchen zu Gehör zu bringen.

"Die sonderbaren Vollkommenheiten des Herrn Hofcompositeurs"

Bachs eigenes Schaffen ist in den musikalischen Traditionen seiner Vorfahren fest verwurzelt. Zugleich ist bereits in den frühesten erhaltenen Kompositionen der Drang spürbar, die Grenzen des mitteldeutschen Stils zu überschreiten und neue Ausdrucksbereiche zu erschließen. Unternimmt man heute den Versuch, sich ein Bild von Johann Sebastian Bach zu machen, so nimmt dieses unweigerlich die Züge des bekannten Leipziger Altersporträts von Elias Gottlob Haußmann an. Dass wir bei Bach also vornehmlich an den Leipziger Thomaskantor denken, ist kein Zufall. Denn lediglich für diese, seine letzten 27 Lebensjahre umfassende Periode ließen sich halbwegs verbindliche Aussagen zu Persönlichkeit und Schaffen des Komponisten zusammentragen: Zu Beginn der Leipziger Zeit können wir das Entstehen der Kantatenjahrgänge und deren Erstaufführungen beinahe von Woche zu Woche verfolgen, und aus den späteren Jahren kennen wir die großen Kompositionsprojekte (wie zum Beispiel die Oratorien, die Serie der gedruckten "Clavier-Übungen", die monothematischen Zyklen der Spätwerke), wissen von Reisen sowie von Kontakten zu Verwandten, Freunden und Kollegen.

Weitaus schemenhafter stellen sich indes die Lebensstationen Bachs vor Antritt des Leipziger Amtes dar. Hier sind fast nur die dürren Eckdaten seines Wirkens bekannt, und nur wenige Kompositionen lassen sich chronologisch fest verankern. Schon die Söhne Bachs konnten nur achselzuckend auf die "unvermeidlichen Lücken" in der Biografie ihres Vaters verweisen, auf "abentheuerliche Traditionen" und "jugendliche Fechterstreiche" – konkrete Kenntnisse fehlten bereits ihnen. Wie wir uns den jungen Bach vorzustellen haben, ist also höchst ungewiss. Einige der lückenhaft und zufällig überlieferten Akten deuten auf einen ungestümen Musiker, der gerne gegen die gesellschaftlichen Konventionen der Zeit verstieß, seinen Vorgesetzten gegenüber auf Konfrontationskurs ging und nur für seine Kunst lebte.

So wechselvoll Bachs Biografie auch verlief, so blieb sein Personalstil doch bemerkenswert konstant . Dieser zeichnet sich aus durch ein unablässiges und systematisches rhythmisches, melodisches und satztechnisches Erkunden des thematischen Materials – der Bach-Biograf Johann Nikolaus Forkel sprach von einer "Variation im Großen" – und dessen kontrapunktische Durchdringung. Bach hat zeitlebens nach nichts Geringerem getrachtet als nach der Entdeckung der vollkommenen Harmonie und damit – in seinem Verständnis – nach musikalischer Vollkommenheit.

Bachs Söhne und das Zeitalter der Empfindsamkeit

Die künstlerische Wirkungszeit der Bach-Söhne, das mittlere 18. Jahrhundert, bildet eine nur schwer abzugrenzende Epoche der deutschen Musikgeschichte. Die Protagonisten dieser Zeit folgten einer Ästhetik, die Originalität als höchstes künstlerisches Ideal ansah. Zugleich waren sie aber Kinder eines Zeitalters, in dem das Lernen nach vorgegebenen Mustern das gesamte pädagogische System bestimmte. So stand das Schaffen dieser Komponisten in einem Spannungsfeld zwischen vielfältigen Bindungen an Traditionszusammenhänge und ausgeprägtem Ringen um Einmaligkeit. Dieser Konflikt ist von den Betroffenen vielleicht meist nur unterschwellig wahrgenommen worden; an der Oberfläche überwog das Bewusstsein, die Vergangenheit abgestreift zu haben.

Die beiden ältestenBach-Söhne Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel wurden schon zu Lebzeiten als führender Repräsentanten des neuen Zeitalters angesehen. Ihre Werke gelten bis heute als Paradigmen des von dieser Generation entwickelten neuen Stils. Beide haben den bevorstehenden Wandel schon in ihrer Jugend deutlich gespürt – einen Wandel, der sich zunächst in einer Aufwertung der künstlerischen Darbietung ankündigte. Die Errungenschaften des neuen musikalischen Bewusstseins lagen zunächst nicht so sehr auf kompositionstechnischem Gebiet, als vielmehr in einer bis ins Detail durchdachten Aufführungspraxis. Für die Musik wurde damit die Kategorie des "guten Geschmacks" entdeckt, dessen Merkmale in zahlreichen grundlegenden Traktaten jener Zeit beschrieben wurden. Die Entdeckung des Geschmacks wirkte sich dann aber auch auf das Komponieren selbst aus, das nun ganz andere, neue Schwerpunkte setzte: Die Formulierung von individuellen und unverwechselbaren Themen, die treffende Deklamation eines vorgegebenen Textes, das Umsetzen eines bestimmten Affekts, die Erweiterung der Ausdruckspalette – dies sind nur einige der Bereiche, über die ein Komponist des empfindsamen Zeitalters nachzudenken hatte.

Das Neuartige und "Empfindsame" manifestierte sich vor allem in der Instrumentalmusik – in der Klaviersonate, die eine ganz neue Sensibilität für musikalische Logik schuf, dann im Solokonzert und schließlich in der Sinfonie, die später für Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven maßgebliche Gattung wurde. Weitgehend befreit von erdrückenden Traditionen prägten die Bach-Söhne vor allem in ihren reifen Werken so eine musikalische Sprache, mit der sich die Epoche nachhaltig identifizierte.