Verena Keßler
Grüße aus dem Schattenreich
Verena Keßlers wagt sich mit ihrem Debütroman an ein trauriges Thema der deutschen Geschichte heran – den Massensuizid kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in einer vorpommerschen Kleinstadt.
Von Swantje Schütz
Demmin ist ein rund 230 Kilometer nördlich von Berlin gelegener Ort in Mecklenburg-Vorpommern mit einer in Deutschland einzigartig traurigen Geschichte. Dort ereignete sich Ende April, Anfang Mai 1945 ein beispielloser Massensuizid, als im Zuge des Kriegsendes die Rote Armee die kleine Stadt einnahm. Wie viele Tote zu beklagen waren, ist nicht sicher. Historiker schätzen, dass dem kollektiven Suizid zwischen 700 und 1000 Menschen zum Opfer fielen – Erwachsene und Kinder. Es müssen sich höchst tragische Szenen abgespielt haben: Mütter nahmen ihre Kinder mit in den Tod, indem sie sie an ihre Körper banden und sich ertränkten. Menschen ließen sich erschießen oder griffen selbst zur Waffe, schluckten Zyankali, wählten den Strick oder schnitten der ganzen Familie die Pulsadern auf. Die deutsche Wehrmacht hatte die Brücken über den Fluss Peene gesprengt und somit die Flucht der Bewohner*innen und Kriegsflüchtlinge in den Westen unmöglich gemacht. Kein leichter Stoff für einen Roman, im Gegenteil.
Die Bürde der Vergangenheit
Verena Keßler hat es dennoch gewagt, ihr Debüt Die Gespenster von Demmin zu dem Thema vorzulegen. Ihre Beweggründe erklärt sie im Kulturjournal des NDR: „Dann wollte ich eigentlich vor allem wissen, wie sich das auf das Heute auswirkt. Wie ist das eigentlich, in so einer Stadt zu leben, in der so ein großes und schlimmes Ereignis stattgefunden hat. Interessiert es die Leute hier heute noch oder spielt es keine so große Rolle mehr?“Folgerichtig ist ihr Buch ist im heutigen Demmin angesiedelt, in dem die Vergangenheit naturgemäß eine große Rolle spielt. Die 15-jährige Ich-Erzählerin Larissa, genannt Larry, ist ein eher cooles, toughes Mädchen, das Kriegsreporterin werden möchte und schon einmal Überlebenstrainings macht, falls sie später gekidnappt und gefoltert wird. In ihrem Testament hat sie festgelegt, wo sie begraben werden möchte, und ihr Taschengeld bessert sie sich durch einen Job auf dem Friedhof auf. Nicht nur dadurch ist der Tod ihr ständiger Begleiter, sondern auch durch ihren verstorbenen Bruder, den sie nie kennenlernen konnte und dessen Tod ihre Eltern auseinandergebracht hat.
Eine zweite wichtige Rolle in dem Buch spielt Larrys Nachbarin von gegenüber. Die alte Dame Lore Dohlberg wird von den Geistern ihrer Vergangenheit heimgesucht: Ihre Mutter hat sich mit ihrer kleinen Schwester in der Peene ertränkt als „die Russen kamen“.
Traurig und lebensbejahend
Der Tod ist allgegenwärtig in Verena Keßlers Erstlingswerk, die Vergangenheit liegt wie ein grauer Schleier über allem. Aber so traurig einzelne Aspekte und letztlich das ganze Buch sind, es ist dennoch eine lebensbejahende Geschichte über Liebe, Familie, Zusammenhalt, das Erwachsenwerden, starke Gefühle und große Sehnsüchte – und alles ganz ohne Sentimentalität.Das ist auch Verena Keßlers Sprache zu verdanken. Jedes ihrer Wörter sitzt, sämtliche Bilder passen. Und der trockene Ton, den Larry anschlägt, ist einfach grandios witzig. Die Sichtweise der Protagonistin liefert zum Glück immer wieder die nötige Auflockerung, denn ganz ohne Humor wären die von Keßler präsentierten Geschichten und Einzelschicksale nicht zu ertragen.
„Man kann gleichzeitig sehr glücklich und sehr traurig sein, so viel weiß ich jetzt.“ Dieser Ausspruch Larrys eignet sich auch gut als Fazit – es ist ein Roman, der traurig und glücklich macht. Schwere und Leichtigkeit sind erstaunlich perfekt ausbalanciert. Für mich das Beste, das ich 2020 gelesen habe und somit eine klare Empfehlung. Schade, dass Weihnachten schon vorbei ist. Obwohl: Bücher verschenken kann man eigentlich immer.
Berlin: Hanser Berlin, 2020. 237 S.
ISBN: 978-3-446-26784-8
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe
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