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Lorenz Just
Über den Dächern von Berlin

Eine Jugend in einem bereits historisch gewordenen Berlin-Mitte in den 1990er-Jahren, das wie ein verwahrloster Abenteuerspielplatz anmutet. In seinem Debüt beschreibt Lorenz Just, wie man vor dem Internetzeitalter seine Zeit verschwendete.

Von Holger Moos

Just: Am Rand der Dächer © Dumont Die Eltern des 1983 in Halle an der Saale geborenen Lorenz Just zogen 1988 mit ihrer Familie in den Berliner Stadtteil Mitte. Andrej, der Held von Justs erstem Roman Am Rande der Dächer, ist anfangs ungefähr acht Jahre alt und lebt mit Vater, Mutter und zwei Brüdern in einer Altbauwohnung, ebenfalls in Berlin-Mitte. Die Familie lebt aber weniger zusammen als nebeneinander her.
 
Just schöpft in seinem Roman aus eigenen Lebenserfahrungen. Sein Heranwachsen skizziert der Autor in einem taz-Interview so: „Wir mussten weder gegen die Eltern rebellieren noch die Enge einer DDR-Jugend abschütteln, da wir in den Umbruchsjahren der Wende sozusagen unsere ersten eigenständigen Schritte in die Stadt getan haben. Das Chaotische war für uns eine natürliche Gegebenheit. Es war gefühlt immer schon da.“

Die Stadt als Abenteuerspielplatz

Andrejs Heranwachsen ist geprägt von Orientierungslosigkeit. Das Umfeld im Berlin-Mitte der 1990er-Jahre erscheint wie ein großer, verwahrloster Abenteuerspielplatz. Alles ist etwas heruntergekommen, aber die Zukunft offen. Man spürt, dass alles möglich ist, auch wenn nicht gerade viel geht. Zeit ist eine sehr relative Komponente, das Leben ist noch nicht bestimmt von den heutigen digitalen Zeitfressern. Von Selbstoptimierung keine Spur, einfach mal abhängen, lautet die Devise.
 
Andrej und sein bester Freund Simon lassen sich treiben, erkunden die Nachbarschaft. Baumhäuser müssen sie nicht bauen, denn es gibt ja genug leerstehende Häuser, die sie erkunden können. Ansonsten ballern sie mit Softair-Pistolen herum und rauben später aus Langeweile Dachwohnungen aus, in denen sich die Gentrifizierung ankündigt.

„Und was willst du hier?“

In der unmittelbaren Nachbarschaft ziehen Hausbesetzer in ein verlassenes Gebäude ein. Fasziniert erkunden Andrej und Simon deren für sie neue und fremde Lebensform. Doch auch diese Episode findet bald ein Ende. Ein noch größeres Faszinosum sind die USA. Andrej strebt am Ende, nach der Jahrtausendwende, ein Austauschjahr in den USA an, diesem Sehnsuchtsort vieler Jugendlicher. Wie bei mancher Sehnsucht ist damit kein konkretes Ziel verbunden. Überall scheint es besser zu sein als hier. Auf die Frage, was er denn eigentlich in Amerika wolle, antwortet ein Jugendlicher mit einer Gegenfrage: „Und was willst du hier?“
 
Just ist es in seinem Debütroman gut gelungen, das jugendliche Verlorenheitsgefühl einzufangen, indem er die Protagonisten in ihrer – auch sprachlichen – Ohnmacht und ihrem ziellosen Handeln zeigt. Der erklärende Erzähler, es ist der ältere Andrej, führt die Dinge zwar aus, ordnet sie bisweilen auch ein, löst aber nichts auf. Nur eines ist am Ende klar und traurige Gewissheit zugleich: Das Leben geht weiter, das Zeitalter der verschwendeten Jugend ist irgendwann unwiederbringlich zu Ende.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Lorenz Just: Am Rande der Dächer
Köln: Dumont, 2020. 272 S.
ISBN: 978-3-8321-8111-6
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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