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Stefanie Sargnagel
Hommage an die Randgestalten

Stefanie Sargnagel schaut in ihrem autobiografischen Coming-Of-Age-Roman auf ihre rauschhafte Jugend zurück – Jahre voller Angstfreiheit, Neugier und wundersamer Begegnungen. Der Buchtitel ist dabei Programm.

Von Helena Matschiner

Sargnagel: Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin © Rowohlt Hundert Augen In Dicht – Aufzeichnungen einer Tagediebin lässt Stefanie Sargnagel ihre Jugend im Alter von 15 bis 20 Jahren Revue passieren. Sie selbst ist die „Tagediebin“, die ziellos durchs Leben treibt.

Unbesiegbar und gleichzeitig verloren

Die Schule, die unmotivierten Lehrer*innen, das Bildungssystem, in dem ihre Meinung zum Unterrichtsstoff weder gefragt noch erwünscht ist, nerven die junge Protagonistin. Viel lieber entwirft sie gemeinsam mit ihrer Mitschülerin und Kiffkumpanin Sarah gesellschaftliche Gegenentwürfe zur Leistungsgesellschaft und radikale Reformideen für das Schulsystem. Die wahre Schule findet auf der Straße statt, darin sind sich beide einig.
 
So nimmt uns die Autorin mit auf ihre Streifzüge durch Wiener Beisln, Hittn und eh authentisch kaputte Wirtshäuser, die jeglichen Gentrifizierungsversuchen zum Trotz als Versammlungsorte für Alkis und andere Antiheld*innen der Stadt fungieren und in denen Lipton Eistee als Codewort für Haschischkauf steht. Im stets benebelten Zustand entlocken sie ihren nächtlichen Bekanntschaften ihre Lebensgeschichten, bevor diese sie im Alkohol ertränken können. Aus den Bekanntschaften werden für die Jugendlichen Gefährt*innen auf der Suche nach einem unangepassten Lebensweg.
 
Erlebnishungrig, jugendlich entspannt und getrieben von der Angst, etwas verpassen zu können, lässt sich die Protagonistin auf Menschen, Drogen und Situationen ein, die meist gut ausgehen, aber mehr als einmal an einem bösen Ende knapp vorbeischlittern. Etwa, wenn sie einem Mann nach Hause folgt, der ihr K.O-Tropfen verabreicht, wenn ihre Freunde im Vollrausch ein Auto stehlen, um in den Urlaub zu fahren oder wenn der LSD-Trip zum Höllenritt wird. Auch depressive Verstimmungen, Demütigungen durch selbstverliebte Männer, die Angst, die Mutter zu enttäuschen, und das Zerbrechen der Freundschaft mit Sarah, mit der doch alles begann, erinnern an die Fragilität der Jugend und an das Grundgefühl, das die Autorin mit „unbesiegbar und gleichzeitig verloren“ beschreibt.

Grindiger Safe Space

Väterlichen Halt bietet Michi, den seine Freunde „Aids-Michl“ nennen. Michi ist selbst ein Alkoholiker, hat sich aber trotz seiner Kaputtheit etwas Spitzbübisches bewahrt. Er beeindruckt die junge Protagonistin mit seinem intelligenten Wortwitz und seiner Lebensfreude. Die Zusammenkünfte der Schicksalsgemeinschaft verlagern sich nun in Michis grindige Sozialwohnung, wo die Musik von Georg Kreisler, Wiener Sänger und Dichter und seinerzeit selbst ein Underdog wie die Protagonist*innen, den Soundtrack liefert.
 
Während die Schule mehr und mehr in den Hintergrund gerät, gewinnt das gemeinsame Rumhängen in Michis Wohnung an Bedeutung. Mit seinem Hang zur Kleinkriminalität, aber auch mit seiner Offenheit und Toleranz gegenüber den Unglückseligen und Outlaws sieht die junge Stefanie Michi als ihren eigentlichen Lehrer, sich selbst als seine Auszubildende. Wie Michi möchte sie das Leben als Spielplatz sehen und schaut ihm seine Tricks ab, Urlaub von den Anforderungen des Lebens zu nehmen.
 
Michis Wohnung wird zu einem sicheren Ort, an dem Michi Stefanie vor der Übergriffigkeit intoxinierter Alt-Junkies schützt, seinen stets warmen scharfen Ingwertee für die Entgiftung nach Rauscheskapaden teilt und Stefanie nach einem Ecstasy-Trip sorgsam mit einer Decke zudeckt. Auch ist er der erste, der sie ermutigt, Künstlerin zu werden. So endet das Buch nicht mit dem vorhersehbaren Rauswurf aus der Schule, sondern mit der Aufnahme der Protagonistin an der Akademie der Bildenden Künste.

Selige Dichtheit

Der Buchtitel bezieht sich nicht nur auf den sich durchziehenden Rauschzustand der Protagonist*innen, sondern auch auf Stefanie Sargnagels Vorliebe für die Ästhetik von Sprache und Dichtkunst. Stetig hat sie ein Notizbuch dabei, in dem sie die einfallsreichsten Wortspiele, poetischsten verbalen Exzesse und absurdesten Situationen ihrer Jugendjahre in Worten und Skizzen festhielt. Ihre Beobachtungsgabe und das Talent, zu überhöhen, ohne ins Groteske zu verfallen, ihre schnodderige Ausdrucksweise, die dennoch nicht ins Polemische verfällt, und ihre ehrliche Zuneigung zu den beschriebenen Menschen, denen sie ein würdevolles Portrait geschaffen hat, machen das Buch zu einem lesenswerten Ausflug in die von Rauchschwaden und nebulösen Gedankengängen geprägte Welt der Randgestalten Wiens – oder auch jeder anderen Großstadt.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Stefanie Sargnagel: Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin
Hamburg: Rowohlt, 2020. 256 S.
ISBN: 978-3-498-06251-4

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