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Norbert Bolz
Religion der Angst?

War die Partei Die Grünen in Deutschland zuletzt so erfolgreich, weil sie ein religiöses Bedürfnis bedient? So lautet eine Hauptthese in Norbert Bolz' neuem Buch.

Von Holger Moos

Bolz: Avantgarde der Angst © Matthes & Seitz Berlin Sich schnell und fortwährend zu ängstigen, gilt als typisch deutsch. Das Wort Angst gibt es sogar im Englischen, mit einer existenzphilosophischen Bedeutung. Nobert Bolz formuliert in Die Avantgarde der Angst die These, dass in Deutschland in den letzten Jahrzehnten rund um die Umweltbewegung eine „politische Theologie“ entstanden sei. Diese Ersatzreligion lebe nicht von Heilsversprechen, sondern von Unheilserwartung. Es sei permanent 5 vor 12.
 
Gekoppelt an diese Unheilserwartung sei ein asketisches Programm zur Rettung der Welt. Die Maxime laute: Wenn der Einzelne sein Leben ändert, umweltbewusster lebt, sich vom kapitalistischen System und von der wissenschaftlich-technischen Zivilisation abwendet, besteht Hoffnung, die gefürchtete Apokalypse abzuwenden.
 
Das Resultat sei, dass auf Ängste weder mit Besonnenheit noch Risikoabwägung reagiert werde, sondern Ängste würden – auch und gerade in den Medien – angestachelt und ausgebeutet, nach dem Motto: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Es sei eine Angstkultur, ja eine Angstindustrie entstanden, in der es „Gefälligkeitswissenschaftler“ gebe, die die passende „kassandrische Forschung“ liefern.

Furcht vor unserer eigenen Macht

Für Bolz ist das vom Philosophen Hans Jonas aufgestellte „Prinzip Verantwortung“ im Kern eine „Ethik der Furcht vor unserer eigenen Macht“. Dem humanistisch gebildeten Bürgertum, vor allem in Deutschland, unterstellt Bolz „Technikangst und Risikoaversion“, also einen „antitechnischen Affekt“. Die verängstigten Menschen vertrauten nicht mehr in die technische Lösbarkeit von (Umwelt-)Problemen. Technik werde nicht mehr als Teil der Lösung, sondern als das eigentliche Problem betrachtet. Das sei laut Bolz eine Absage an die Ideen von Aufklärung und Fortschritt, ein „Verrat an der Neuzeit“. Als Folge sei ein Geschichtsbild mehrheitsfähig geworden, nach dem alles nur immer schlimmer werde.
 
Ideengeschichtlich geht Bolz auch zu Walter Benjamin zurück, dem „Kultautor der Linksintellektuellen“, der seine Epoche als „eine einzige Katastrophe [erlebte], die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“. Aufgrund dieses Verständnisses seiner Zeit habe Benjamin Metaphern benutzt, auf die die Umweltbewegung bis hin zu Fridays for Future-Aktivist*innen zurückgreifen: Benjamin sah etwa in der Revolution den „Griff nach der Notbremse“, durch den ein „wirklicher Ausnahmezustand“ herbeigeführt werden sollte.

Steile Thesen

In seinem Buch liefert der Medienwissenschaftler sehr steile Thesen, die ihn in die Nähe der Leugner*innen des Klimawandels rücken. Bolz ist bekannt für seine pointierten, bisweilen provokativen Meinungsäußerungen, die er nicht zuletzt regelmäßig in aphoristischer Manier über Twitter verbreitet. Für seine „Satzkeulen“ – so nennen Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich in der Pop-Zeitschrift sein „Stahlgezwitscher“ – muss er auch Kritik einstecken.
 
So nachvollziehbar Bolz' Aufruf zu mehr Besonnenheit und weniger Emotionalisierung sowie seine Klage über die Infantilisierung unserer Gesellschaft sind, so ist doch gerade sein Buch nicht frei davon, Ängste zu schüren. Schließlich warnt Bolz vor einer angeblichen Öko-Diktatur und dem für ihn sich abzeichnenden Ende der aufklärerisch-rationalen Neuzeit. Das Prinzip unserer Zeit, dass wer Aufmerksamkeit will, im Positiven wie im Negativen übertreiben muss, hat also auch Bolz ganz gut verinnerlicht.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Norbert Bolz: Die Avantgarde der Angst
Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2020. 191 S.
ISBN: 978-3-95757-951-5

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