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Sven Regener
Wer übt, ist feige

Sven Regeners neuer Roman ist ein bisschen wie die Prequels und Sequels um die Star-Wars-Saga – und ein bisschen wie Ulysses von James Joyce: Ein stringenter Plot fehlt, aber den braucht es auch nicht.

Von Holger Moos

Regener: Glitterschnitter © Galiani Berlin Sven Regener lässt auch seinen aktuellen Roman Glitterschnitter im Kosmos seines ersten Erfolgswerks Herr Lehmann (2001) spielen – ein weiteres Mal präsentiert er die Westberliner Lebenskünstlerwelt der 1980er-Jahre. Lesend taucht man in einen wahren Bewusstseinsstrom ein, der gespickt ist mit diversen Laberflashs der Figuren.

Zentraler Ort der Handlung ist das Café Einfall, in dem Frank Lehmann, der von den anderen Figuren meistens Freddies kleiner Bruder, der kleine Lehmann oder – für Frank, der darum kämpft ernst genommen zu werden, am schlimmsten – Frankie genannt wird. Überhaupt sind Namen und Verniedlichungsformen hochproblematisch, auch Karl Schmidt verbittet sich, Charlie genannt zu werden. Chrissies Mutter Susi will Kerstin heißen. Und dann ist da noch H.R. Ledigt, der natürlich auf keinen Fall Heinz Rüdiger sein will. Nur der Österreicher Kacki von der Galerie ArschArt hat komischerweise kein Problem mit seinem Rufnamen.

Wer Lust auf wohlige Nostalgie verspürt, hat mit Glitterschnitter die richtige Lektüre gefunden. Lesend sehnt man sich zurück in diese Zeit, in der alles möglich schien, ohne dass allzu viel umgesetzt werden musste. Das Leben war damals womöglich entspannter. Trotzdem regen sich Regeners Figuren gerne über alles Mögliche auf, insbesondere über all die Deppen und Arschlöcher in der näheren Umgebung, die man am Ende aber doch irgendwie mag. Man muss ja mit ihnen auskommen, weil man schließlich aufeinander angewiesen ist in der eingemauerten Stadt.

Probleme beim Milchaufschäumen

Es gibt herrlich abstruse Szenen, wenn etwa das Café Einfall eines Tages zur Nichtraucherkneipe wird – weil sich eine Gruppe schwangerer Frauen dort trifft, angeführt von Helga, der Frau des Café-Besitzers Erwin Kächele. Eine Nichtraucherkneipe, das ist nicht nur für den Kneipier unvorstellbar. Auch sämtliche Gäste sind fassungslos, die Szene endet tumultartig. Niemand kommt mehr ins Café, weil sich ein Pulk vor der Tür versammelt hat. Dem KOB – ein Polizist als Kontaktbereichsbeamter, der die Beziehungen zwischen Bürger*innen und Polizei pflegen soll – drohen sogar Schläge. Da schwingt Frank Lehmann sich zum Retter auf und versteckt den KOB im Keller.

Stringenz ist Regeners Sache nicht. Stattdessen bringt er sein Lesepublikum dazu, sich in einen Zustand, in eine Zeit hineinfallen zu lassen. Es geht unter anderem um die Schwierigkeiten von Herrn Lehmann beim Milchaufschäumen für den damals in Westberlin sehr angesagten Milchkaffee. Dann um die titelgebende Band Glitterschnitter, die eine Bohrmaschine einsetzt, um möglichst subkulturell zu wirken. Das Credo der Band lässt sich in etwa so zusammenfassen: „Wer übt, ist feige.“ Schön ist auch die Sentenz eines Schlagzeuglehrers: „Wenn die Trommeln sprechen, schweigt der Kummer.“

Zwischen Genialität und Idiotie

Es ist schon eine seltsame Welt „in einer seltsamen Stadt in einer seltsamen Zeit“, wie es im Klappentext des Buches heißt. Und eigentlich passiert im gesamten Roman nichts wirklich Aufregendes. Die Band Glitterschnitter möchte auf ein angesagtes Musikfestival eingeladen werden und muss dazu ein Konzert organisieren – das ist der Kern des ganzen Romans, führt aber am Wesentlichen vorbei. Die Handlung ist eindeutig Nebensache, Fragen und Probleme werden in aller Ausführlichkeit reflektiert und besprochen – und nicht nur einmal, denn kein Problem ist zu klein, um es nicht mehrmals und von allen Seiten zu betrachten. Es ist wie im echten Leben: Die Grenzen zwischen Genialität und Idiotie, zwischen Philosophie und Gelaber sind fließend.

Dennoch liest man das Geplapper der zahlreichen Figuren sehr gerne. Es nimmt einen mit, selbst wenn es nirgendwohin führt. Außer vielleicht in eine liebenswerte Fantasiewelt wie bei Tolkien oder J.K. Rowling: „Nicht unbedingt in bessere Welten, aber doch in Welten, die uns abenteuerlicher, lebenswerter, weniger einschränkend erscheinen“, meint Thomas Winker von der ZEIT.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Sven Regener: Glitterschnitter. Roman
Köln: Galiani Berlin, 2021. 480 S.
ISBN: 978-3-86971-234-5

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